43. Nordische Filmtage in Lübeck - ein Rückblick14. Filmforum Schleswig-Holstein: DokumentarfilmeInteressant und sehr sehenswert, wenn auch gewöhnungsbedürftig, ist der Dokumentarfilm von Michael Trabitzsch "Zeichnen bis zur Raserei Der Maler Ernst Ludwig Kirchner". Intensiv wird versucht, Leben und Werdegang des Expressionisten und Mitbegründers der Künstlergruppe "Brücke" nachzuzeichnen. Seine Stationen über Dresden, den Berliner Großstadtmoloch, seine Naturerlebnisse auf der Insel Fehmarn und die aus allem resultierenden Bilder werden in Beziehung zu einander gesetzt. "Zeichnen bis zur Raserei Der Maler Ernst Ludwig Kirchner" Trabitzsch arbeitet für seinen Film mit den unterschiedlichsten Darstellungsmitteln. So treten z.B. nachgestellte, inszenierte Großstadtszenen in Farbe und Schwarzweiß gleichberechtigt neben historische Aufnahmen und andere Zeitdokumente. Der Kommentar versucht eingehend zu erläutern und im Zitat nachfühlbar zu machen, wie Kirchners Welt war und wie er schließlich an ihr zerbrach. Dabei wird versucht, dem Seelenleben der Malers als einem zentralen Motor seines Schaffens näher zu kommen. Als psychisch gebrochenes Opfer des Ersten Weltkrieges findet Kirchner sein Refugium in der schweizerischen Bergwelt bei Davos, erlebt hier eine zweite intensive Schaffensphase, immer wieder von Krisen unterbrochen, und erschießt sich schließlich 1938. "Kurische Nehrung" Eine noch heute in Nida (dem ehemaligen Nidden) lebendende Deutsche erzählt von ihrer harten, entbehrungsreichen Kindheit in der Nachkriegszeit, ohne Bitternis, so als ob es selbstverständlich wäre, als Vierjährige 1945 ohne Vater und Mutter dazustehen und dann weiterzuleben. Ein 1954 im ehemaligen Russitten geborener und lebender Russe berichtet, wie er seine Liebe zum Film entdeckte und daraufhin Filmvorführer wurde. In seinem heute leeren Kino schaut er vergessene alte russische Filme an, versonnen verträumt scheinbar geduldig auf bessere Zeiten wartend. Man sieht, dass es auf der russischen Seite nicht zum Besten steht. Verwahrlost wirkt der Raum in der Fischerbude am Haff-Hafen. Und dennoch findet Koepp glückliche Menschen. Ein neun Jahre verheiratetes Ehepaar, das immer noch rumturtelt wie frischverliebt. Einfach berührend. "Jolly Juggle Straßenkinder aus Kapstadt auf der Bühne" Eine Reihe der Kinder wünschte nach diesen alljährlichen Sommerworkshops wieder in einer Familie zu leben und wurde erfolgreich in solchen untergebracht. Der Film besucht zusammen mit seinen kleinen Helden ihre ursprünglichen Familien bzw. die Menschen, die sich noch um die Straßenkinder näher kümmern, und ermöglicht so behutsam eine Ahnung, wie es über die Armut hinaus zu den Schicksalen der Kinder kommen konnte. "Nacht der langen Schatten Mari Boine" Marie Boine erzählt erinnernd von ihrer kulturellen Emanzipation. Erst allmählich erkannte sie in ihrer Jugend den fatalen Einfluss der Fremdbestimmung durch Staat und Christentum auf ihre verschüttete Identität. Die exemplarisch zu deutende "Befreiung" ihres Volkes in Norwegen ermöglicht der Samin einen eher selbstverständlichen Kontakt zu anderen Urvölkern aber auch zur modernen Zeit. Der Film malt mit dem Gesang von Boine und Bildern aus ihrer nördlichen Heimat. Claudia Willke und Stefan Meier zeigen eine gereifte Frau und Künstlerpersönlichkeit an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung, auch in Afrika auf der Suche nach neuer Inspiration. "Das Trauma Vietnam" Verblüffend und überraschend, wie in diesem Film befragte amerikanische Verantwortliche des Vietnamkrieges ihre damaligen Urteile als falsch revidieren. So z.B. der ehemalige Verteidigungsminister McNamara, der völlig glaubhaft seine damalige Fehleinschätzung gesteht, den Irrtum der amerikanischen "Domino-Theorie" bekennt und nüchtern feststellt, dass sich die USA niemals in diesen ostasiatischen Bürgerkrieg hätten einmischen dürfen, zumal er im Grunde genommen nichts mit dem Vordringen eines wie auch immer russisch oder chinesisch beherrschten Kommunismus zu tun gehabt habe. Frappierend aber auch die unbeabsichtigten (der Film entstand vor anderthalb Jahren) aber sich einfach aufdrängenden Bezüge zum heutigen Afghanistan-Krieg. Viele amerikanische Reaktionen von damals scheinen sich fast Eins zu Eins auf die von heute übertragen zu lassen. Unwillkürlich drängen sich Fragen beim Zuschauer auf. Gibt es eine amerikanische Lernfähigkeit in Bezug auf Krieg? Sind Bomben der Weisheit letzter US-Schluss? "Grosse Freiheit Kleine Freiheit" Beide erzählen solidarisch von ihren früheren Leben im Untergrund, ihren Überzeugungen und kompromisslosen Wegen zu gesellschaftlicher Veränderung. Rückblicke auf die Jugend beider Frauen, die an die Orte ihrer Kindheit führen, zeigen, in welch latent gewalttätigen Männerwelten sie aufwuchsen. Auf der einen Seite die rohen Kerle als Bedrohung für das Pflegekind Viett im dörflichern Mief der 50 Jahre bei Eckernförde, zum anderen der Übervater als keinen Widerspruch duldender, alles beherrschender Patriarch in der Familie von Barhoum. Man mag es als unverbesserlichen Irrtum begreifen, dass Inge Viett sich immer noch mit ihrer Selbsteinschätzung zum damaligen Terrorismus in der BRD mit Menschen wie Baroum gleichsetzt, die aus einer völlig anderen Situation heraus und mit einer ganz anderen Basis in der Bevölkerung gegen die Diktatur in Uruguay kämpften. Die Filmemacherin jedenfalls versagt sich solche Kommentare oder Interpretationen und ermöglicht so ein Doppelporträt, das es dem Zuschauer überlässt, sein eigenes Urteil zu fällen. (Helmut Schulzeck) |