Ein Holländer vor Hollywood

Vincent van Goghs Kamerakader in der Bremer Ausstellung „Van Gogh: Felder“

Der Akt der Selbstverstümmelung, das berühmte Ohr Abschneiden, war Endpunkt und zugleich Neubeginn im Schaffen Vincent van Goghs. Noch bis zum 26. Januar zeigt die Bremer Kunsthalle van Goghs späte Gemälde aus der Zeit in der Heilanstalt in Saint-Rémy und der letzten Station vor dem Selbstmord in Auvres. Van Goghs Bilder entwickeln dabei einen eigentümlich filmischen Blick zwischen dem impressionistischen Zoom in die Seelenlandschaft und der expressionistisch cinemascope-geweiteten Darstellung der Felder, die sich als Spiegel der Seele außerhalb ihrer breiten.

Chronologisch geordnet begleitet der Parcours den Betrachter durch die Veränderung des Blickwinkels eines Malers, der wenige Jahre vor Erfindung des Kinos in Kamerakadern zu denken schien. Vincents erste Pinselstriche nach dem seelischen Zusammenbruch widmen sich wie einst im mediterranen Arles dem Interieur des auf ein heimatloses Krankenzimmer zusammengeschnurrten Ateliers. Die Gitter eines Fensters der Heilanstalt verstellen zunächst noch symbolträchtig den Blick vom quälenden Innern in das möglicherweise befreite Außen. Im nächsten Schritt begibt sich van Gogh in den Park der Anstalt, zeigt die „Steinbank“ in einer noch eingeengten Perspektive. Als sei die Sicht des Malers depressiv nach unten gewandt, befindet sich die Parkbank oberhalb der Bildmitte, sind die Stämme der Bäume vom oberen Bildrand brutal abgeschnitten. Ein scheu gekapptes, ein gezoomtes Kader, erste erneute Annäherung an die Welt des Draußens, die noch fremd, in brünetten Farbtönen verdüstert wirkt.

Dann schwenkt van Goghs Kamera, malt die Mauern des klösterlichen Gartens, um schließlich außerhalb ihrer das weite Feld zu entdecken. 1911 erwarb die Bremer Kunsthalle „Das Mohnfeld“, was einen erbitterten Kunststreit auslöste, den der zweite Teil der Ausstellung dokumentiert. Die „Worpsweder“ und andere wandten sich gegen die Einkaufspolitik des Museums, witterten eine Bevorzugung des „französischen Irren“ gegenüber bodenständig „deutscher Kunst“. Fälschlich, wie die Ausstellung statistisch nachweist.

Doch dieser kunstpolitische Diskurs ist nur ein Seitenarm der thematisch klug zentrierten van Gogh-Schau. Im „Mohnfeld“ geht der Künstler in die Totale und bleibt dabei doch der schweren Erde mehr verhaftet als der Leichtigkeit des Himmels. Weit entwirft er die Zentralperspektive, aber das Bild zeigt den Horizont nur verstellt von Zypressen und Gebirge, als scheute seine „Kamera“ den Shot über die Mauer der Feldumfriedung hinaus. Die Anstalt dehnt sich bis an den nicht wirklich vorhandenen Horizont, das Gefängnis der Seele bleibt beständig als Grenze.

Bis Vincent 1890 in Auvres das Cinemascope-Format entwickelte, 100 mal 50 Zentimeter, ein sich spreizendes Kader, das die Kunst bislang nicht kannte. Schon in den Erntebildern („Der Sämann“, 1888) hatte van Gogh mit ungewöhnlichen Perspektiven experimentiert, die Symmetrie mit der Bestürzung ihrer Zerbrechlichkeit kombinierten. Vor einer glühenden Sonne in der exakten Mitte des oberen Viertels des Bildes lagert das Feld, pastos immer wieder übermalt mit tausenden von irrenden Strichen, auf dem der Sämann, ein Millet-Zitat, nach rechts aus dem Bild strebt. Eine Dynamik, die in der Vermittlung der Einsamkeit des geweiteten Blicks ihres Gleichen sucht.

Ihr liefert sich der Maler am Ende seines Weges in der erbarmungslosen Totalen aus. Der Sog zum Horizont, der noch immer im oberen Bilddrittel lagert, konzentriert sich in einer Apotheose der Leere. Hitchcock hat solche später in den Maisfeldern von „North by Northwest“ wiedergefunden. Doch schon bei van Gogh scheint der spärliche blaue Himmel jeden Moment den Angriff von Bombenflugzeugen anzudeuten.

Wo das Kornfeld wogt, ist nicht Freiheit, sondern verstrickt sich die Seele in den Halmen, die ein pointilistischer Detailreichtum zeichnet. Van Gogh erweist sich so als Wegbereiter einer Moderne, die erst 30 Jahre nach seinem Freitod anbrach, mit in sich kehrenden Zooms und cinemascopischen Totalen, die „der Holländer“, so bezeichnete er sich gerne, Hollywood vorwegnahm. (jm)

Nähere Infos über die sehenswerte Ausstellung in der Bremer Kunsthalle unter www.van-gogh.de.

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