Dokumentiert:

Kultur ist kein Luxus

Offener Brief an die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Frau Dr. Christina Weiss

Sehr geehrte Frau Dr. Weiss,

zur Zeit wird hauptsächlich von einer Gruppe einflussreicher Film- und Fernsehproduzenten mit Vehemenz die Gründung einer nach eigenen Angaben „deutschen Filmakademie nach US-amerikanischem Vorbild“ betrieben.

Eine deutsche Filmakademie ist jedoch nicht nötig, da

1. die filmpflegerischen und filmforscherischen Aufgaben einer Filmakademie in Deutschland seit langem erfolgreich von Institutionen wie dem Bundesarchiv / Filmarchiv, der Murnau-Stiftung, der DEFA-Stiftung, der Deutschen Kinemathek Berlin u.a. wahrgenommen werden und

2. der Deutsche Filmpreis wesentlicher Teil der Kulturellen Filmförderung des Bundes ist, die in der Verantwortung des BKM liegt und nicht übertragbar ist oder sein sollte.

Was wir seit längerem erleben, ist eine von Hollywood dominierte globale Kinolandschaft. Die Vergabe des Deutschen Filmpreises durch eine „Filmakademie nach US-amerikanischem Vorbild“, bei der dann die Entscheidung für die Zuwendung der staatlichen Gelder läge, zeigt keinen Weg aus dieser für den europäischen Film insgesamt schwierigen Situation, sondern reagiert darauf lediglich durch einfallslose Imitation und kommt einem Putsch mit dem Ziel der Privatisierung dieser Gelder gleich. Die scheinbare Anlehnung an die American Academy of Motion Pictures and Sciences ist sogar irreführend, da der von ihren Mitgliedern vergebene Filmpreis, „Oscar“ genannt, weder mit einer Fördersumme verbunden ist, noch zuallererst den Produzenten, sondern den Regisseuren und anderen Kreativen verliehen wird.

In Deutschland will die Industrie offenbar unter sich bleiben, will auch die Vergabe von Fördergeldern kontrollieren, mit dem zu erwartenden Resultat der totalen Kommerzialisierung des deutschen Films. Das führt zur Zerstörung der kulturellen Filmförderung und damit des künstlerischen Films. Zu befürchten ist, dass Film als Kunst dem Diktat der Industrie weichen soll. Staatliche Gelder würden so zweckentfremdet benützt. Das Ergebnis wäre die Monokultur eines kurzlebigen Unterhaltungsfilms, die Kopie des Hollywood-Films, dessen einziges Ziel es ist, Profite einzuspielen.

Dabei geht verloren, was für Kunst und Kultur wesenhaft ist - die Vision, die Vielgestaltigkeit, die Demokratie des „anderen Blicks“ auf diese Welt und der andere, individuelle Umgang mit den künstlerischen Mitteln. Der Versuch der Eliminierung des künstlerischen Films hat in Deutschland eine traurige Tradition. Einer um sich greifenden Kunst-Feindlichkeit und einem kulturellen Konformismus, der zu Ausgrenzung, Ignoranz und Arroganz führt, muss mit Widerstand begegnet werden.

International wird der deutsche Film mit dem Film vor 1933, dem Autorenfilm der 60er und 70er Jahre und filmkünstlerischen Werken der DEFA identifiziert. Diese Filme haben das kulturelle Bewusstsein befruchtet. Mit diesen Arbeiten war der deutsche Film kenntlich und erfolgreich. Mit der einseitigen Betonung des kommerziellen, ausschließlich auf Profit orientierten Films würde also das einzige, was der deutsche Film zur internationalen Filmgeschichte beigetragen hat, nämlich der künstlerische Film, in seiner Tradition zerstört. Der Freiraum für Fantasie und Innovation und künstlerische Werte, die sich nicht dem Profit andienen, würden ausgeschlossen.

Die Einschränkung der kreativen Fantasie hat eine politische Dimension. Wer eine andere Welt nicht denken kann, kann auch für eine Veränderung dieser Gesellschaft nicht wirken. Im Ergebnis liefe das auf den Erhalt des Status Quo hinaus, die Wiederholung des ewig Gleichen und die Erstarrung. Das Letzte, was eine Kultur jedoch gebrauchen kann, ist Friedhofsruhe.

Von alarmierender Fragwürdigkeit sind die Verfahrensfragen einer solchen Akademie, soweit sie bisher bekannt wurden. Es wird argumentiert, dass 700 ehemalige Filmpreisträger und weitere ca. 1.800 Personen als Akademiemitglieder kompetenter seien als ein Gremium von zwölf. Mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichnet worden zu sein, muss jedoch nicht bedeuten, auch genügend qualifiziert und motiviert zu sein, die Qualität von Filmen zu beurteilen. Die hohe Zahl der Teilnehmer führt zu einer Anonymität der Entscheidung, die nur noch ein Abstimmungsergebnis und nicht das Resultat einer demokratischen Diskussion ist. Niemand fühlt sich dann persönlich verantwortlich, und der Gefahr der Manipulation und lobbyistischer Verabredungen wird die Tür weit geöffnet. Der „beste Film“ wäre einfach der mit den meisten Stimmen, womit das einzige Kriterium die Masse wäre; alle anderen Kriterien zur Beurteilung der Qualität eines Filmes werden faktisch ausgeschaltet. Argumente für den Wert sperriger Filme, die nicht dem kleinsten gemeinsamen Nenner, nicht dem Geschmack der Mehrheit entgegenkommen, sondern eine, vielleicht sogar große, Minderheit ansprechen, bleiben ungehört. Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini warnte schon 1970: „Die wahre Antidemokratie ist die Massenkultur.“

Außerdem würden die Mitglieder der Akademie die Filme als Videokopien privat ansehen und nicht wie die Mitglieder des Gremiums bisher gemeinsam als Projektion auf der Leinwand, wo Filme hingehören. Eine Entscheidung aufgrund der Sichtung einer Videokopie entspricht der Beurteilung eines Gemäldes nach Ansicht einer Postkarte des Motivs. Zumal die Videokassette sich vorwärts spulen lässt, wenn es anstrengend wird. Die Videokopie könnte auch einfach gar nicht angesehen werden. Die genannten Probleme sind aus der Praxis in ähnlichen Gremien wie dem geplanten bekannt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Arbeiten findet so nicht mehr statt.

Die Vergabe des deutschen Filmpreises durch ein solchermaßen in seiner Gesamtheit auf einen Mainstream ausgerichtetes Gremium mit Hunderten von Mitgliedern bedeutet in ihrer Signalwirkung die fortschreitende Einschränkung künstlerischer Freiheit. Damit ginge der Gesellschaft insgesamt ein Stück Freiheit verloren. Die einseitige Unterwerfung des Films unter die Gesetze eines Marktes ist ein weiterer Schritt auf dem Weg des Profitdenkens in der Kultur in Richtung der Verwüstung der deutschen Filmkunst und damit der Kultur insgesamt in diesem Land.

In seiner Folge führt das auch zu einer zunehmenden Bevormundung des Zuschauers. Die Möglichkeit, verschiedenartige, ungewöhnliche, alternative Formen von Film wahrzunehmen, kennen zu lernen, auszuwählen, wird noch stärker reduziert. Filmkultur besteht nicht nur darin, dass in bestimmten Kinos wichtige Werke der Filmgeschichte vorgestellt werden, sondern Filmkultur muss als lebendiger Prozess verstanden werden, in dem Filmkunst auch immer wieder entstehen kann. Sie hat eine Daseinsnotwendigkeit neben der Filmindustrie, zumal sie in der gesamten Geschichte des Films bis heute, auch in den USA, ein notwendiger Impulsgeber für sie war, sie befruchtete und durchaus auch immer wieder kommerzielle Erfolge verbuchen konnte.

Filmkunst als gesellschaftliches Gut der Kultur eines Landes bedarf der Pflege und Unterstützung, d. h. der Filmförderung, da diese vorrangig andere Werte schöpft als finanzielle. Die Förderung des künstlerischen Films muss verstärkt werden. Hingegen sollte sich der Film, der sich als Industrie versteht und mit rein wirtschaftlichen Argumenten ins Feld zieht, wie jeder andere profitorientierte Produktionszweig durch seine Einnahmen selber finanzieren. Dabei ist dem deutschen Kino und seinen Produzenten natürlich auch die vermehrte Herstellung kommerziell erfolgreicher Filme zu wünschen. Das könnte vielleicht zu einem Ende der Angst vor der Berührung mit anderen Formen des Films führen. Bisher ist es allerdings so, dass in Deutschland die meisten kommerziell angelegten Filme floppen, also finanziell Verluste einfahren, wobei der Filmförderung jährlich Gelder verloren gehen, die dem künstlerischen Film zugute kommen könnten.

Nicht eine deutsche Filmakademie ist notwendig, sondern eine Veränderung der herrschenden Förderpolitik in diesem Sinne, wobei sowohl die Novellierung des Filmförderungsgesetzes, als auch die derzeitige Praxis der Vergabe des Deutschen Filmpreises „Lola“ zur Diskussion stehen. Entscheidungen darüber dürfen nach demokratischem Verständnis nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden; die Kreativen und ihre Vertreter können davon nicht abgekoppelt werden.

Die Errichtung einer deutschen Filmakademie birgt keinerlei Vision zur Förderung und Belebung der Filmkultur. Zu befürchten ist, dass sie ihrer Austrocknung dient und allein den kommerziellen Interessen einer Produzentenlobby nützt, denen alles andere zum Opfer fällt, das nicht in diesem System aufgehen kann oder will. Eine lebendige Filmkultur gibt es nur in Vielfalt, in der Freiheit des Widerspruchs und des Rechts auf neue, ungegangene Wege. Kunst stellt den geistig-seelischen Aspekt einer Gesellschaft dar. Ein Angriff auf die Kunst ist ein Angriff auf die emotionalen wie intellektuellen Qualitäten des Menschen und seine unabhängige Art der Wahrnehmung und Kommunikation.

Eine Gesellschaft muss aushalten, von der Kunst kritisch begleitet und reflektiert zu werden. Dies ist für ihr kulturelles Überleben notwendig. Kultur ist kein Kaufhaus. Eine Gesellschaft, die sich eine ungezähmte, unangepasste Kunst nicht leistet, verliert ihr Leben. Kunst und Kultur sind kein Luxus. Sie schützen eine Gesellschaft vor dem Absinken in den Zustand eines dumpfen Funktionierens und einer Barbarei des bloßen Kampfes um ökonomisches Überleben.

Wer behauptet, es komme nur darauf an, dass es am Ende in der „Kasse klingelt“, leugnet, dass der Mensch auch wesentlich geistige und seelische Bedürfnisse hat. Die befreiende Kraft innovativen, kreativen, utopischen Denkens, das nicht instrumentalisiert der Ideologie eines Marktes, einer Masse, oder irgend einer anderen Ideologie zu dienen hat, tut not. Die Prinzipien eines profitorientierten Materialismus sollten nicht verinnerlicht, sondern ihnen sollte eine andere Strömung, die Strömung einer vitalen, kritischen Kultur entgegengesetzt werden.

Die Frage, wie die Kultur einer Gesellschaft aussehen könnte, ist keine ökonomische, sondern eine ethisch-künstlerische. International ist längst eine Bewegung entstanden, im Zuge derer namhafte europäische Regisseure fordern, dass der Film in Brüssel nicht als Ware angesehen werden soll, sondern als geistiges Gut.

Die Vertreter des deutschen Films und die Politiker sollten nicht leichtfertig mit dieser Frage und den im Sinne des Dargelegten wertvollen kreativen Kräften in diesem Land umgehen, die sich sonst abwenden könnten.

Der in Deutschland denunzierend und herabwürdigend gebrauchte Begriff des künstlerischen Films muss endlich wieder seinem wirklichen Wert entsprechend verstanden, gewürdigt, behandelt und unterstützt werden. 70 Jahre nach seiner Zerstörung durch die Nationalsozialisten, die uns, wie der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész sagt, „mit dem Fluch seelischer und geistiger Verwaisung belud“, sollte die Zeit dafür gekommen sein, anstatt seine wiederholten Versuche, in diesem Land Fuß zu fassen, endgültig zunichte zu machen.

Frau Dr. Weiss, wir fordern ein klares Bekenntnis der Kulturstaatsministerin dieser sozialdemokratisch-grünen Regierung zur Kultur und keine Kommerzialisierung der Kulturförderung und Privatisierung der öffentlichen und kollektiven Kulturgüter.

Berlin, August 2003


Die Unterzeichner:

Isolde Barth / Schauspielerin
Dr. Hermann Barth / Filmwissenschaftler, Leiter Intern. Dokumentarfilmfestival München
Lars Barthel / Kameramann
Jens Becker / Autor, Regisseur
Berliner Film- und Fernsehverband e. V.
Vorstand:
- Evelyn Schmidt / Vorsitzende, Regisseurin
- Klaus Schmutzer / Geschäftsführer, Produzent
- Burkhard Drachsel / Dokumentarist
- Heinrich Gebauer / Redakteur
- Frank Burkhard Habel / Filmwissenschaftler
- Beate Hanspach / Dramaturgin
- Norbert Kerkhey / Autor
- Ulrike Schirm / Schauspielerin
- Julia Theek / Autorin, Regisseurin
- Marco Voß / Produktionsleiter
- Beate Winkler / Cutterin
Carmen Blazejewski / Autorin, Dramaturgin
Jens Christian Börner / Autor, Regisseur, Mitherausgeber der Filmzeitschrift „Revolver“
Jürgen Böttcher / Regisseur, Bundesfilmpreisträger
Bernd Buder / Berliner Filmkunsthaus Babylon
Gerd Conradt / Regisseur
Jochen Denzler / Produzent
Iain Dilthey / Regisseur, Autor
Angelica Domröse / Schauspielerin
Roland Dressel / Kameramann, Bundesfilmpreisträger
Helmut Dziuba / Regisseur
Judith Engel / Schauspielerin
Claudia Fink / Regisseurin und Autorin
Simone Fürbringer / Regisseurin, Autorin, Bundesfilmpreisträgerin
Uli Gaulke / Regisseur, Bundesfilmpreisträger
Prof. Egon Günther / Regisseur, Bundesfilmpreisträger
Christel Gräf / Dramaturgin
Erika Gregor / Freunde der Deutschen Kinemathek
Ulrich Gregor / Freunde der Deutschen Kinemathek, Bundesfilmpreisträger
Frank Grunert bvk / Kameramann
Frank Gutsche / Kameramann
Michael Haneke / Drehbuchautor und Regisseur
Thomas Heise / Regisseur
Jost Hering / Filmproduzent
Christoph Hochhäusler / Regisseur
Jutta Hoffmann / Schauspielerin
Nora Hoppe / Regisseurin, Autorin
Christoph Hübner / Filmmacher
Nicolas Humbert / Regisseur, Autor, Bundesfilmpreisträger
Peter W. Jansen / Filmkritiker, Filmhistoriker
Susanne Jansen / Schauspielerin
Barbara Junge / Filmdokumantaristin
Winfried Junge / Filmdokumentarist
Fred Kelemen / Regisseur, Kameramann, Bundesfilmpreisträger
Inge Keller / Schauspielerin
Herwig Kipping / Filmregisseur, Bundesfilmpreisträger
Prof. Martin Koerber / Filmrestaurator
Ira Kormannshaus / Auswahlgremium Grenzland-Filmtage
Gabriele Kotte / Autorin, Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern
Gerd Kroske / Regisseur
Regine Kühn / Autorin
Kulturattac-Deutschland
Koordination:
- Davide Brocchi / Dipl. Soz.-Pol.
- Jörn Hagenloch / Journalist, Texter
- Anis Hamadeh / Songwriter
- Michael Harmssen / Musiker, Komponist
- Heiko Wolz / Autor
Barbara Kunst / Produktionsleiterin
Sabine Lenkeit / Berliner Filmkunsthaus Babylon
Nicos Ligouris / Autor, Regisseur
Peter Lilienthal / Regisseur, Bundesfilmpreisträger
Eva Mattes / Schauspielerin, Bundesfilmpreisträgerin
Gordian Maugg / Regisseur, Bundesfilmpreisträger
Wolfgang Michael / Schauspieler
Bernd-Günther Nahm / Kulturelle Filmförderung Schleswig-Holstein
Antje Naß / Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern
Anja Neraal / Cutterin
Maja Neumann / Producerin, Künstlerin
Ulrike Ottinger / Filmregisseurin und Produzentin, Bundesfilmpreisträgerin
Enno Patalas / Filmhistoriker, Filmkritiker, Bundesfilmpreisträger
Werner Penzel / Regisseur, Kameramann, Produzent, Bundesfilmpreisträger
Helga Reidemeister / Regisseurin, Bundesfilmpreisträgerin
Prof. Edgar Reitz / Filmregisseur, Autor, Bundesfilmpreisträger, Mitglied der Akademie der Künste Berlin
Dr. Erika Richter / Filmwissenschaftlerin, Dramaturgin
Helma Sanders-Brahms / Regisseurin, Mitglied der Akademie der Künste, Bundesfilmpreisträgerin
Mario Saravanja / Künstler
Ralf Schenk / Filmpublizist
Monika Schindler / Cutterin, Bundesfilmpreisträgerin
Petra L. Schmitz / Dokumentarfilminitiative im Filmbüro Nordrhein-Westfalen
Hannes Schönemann / Regisseur
Eduard Schreiber / Regisseur
Daniela Schulz / Regisseurin /Dokumentarfilm
Hanna Schygulla / Schauspielerin
Ula Stöckl / Regisseurin, Bundesfilmpreisträgerin
Prof. Katharina Sykora / Kunstwissenschaftlerin
Christoph Terhechte / Internationales Forum des Jungen Films
Hilmar Thate / Schauspieler
Rudolf Thome / Filmregisseur
Ines Thomsen / Kamerafrau, Regisseurin
Laura Tonke / Schauspielerin
Joachim Tschirner / Regisseur
Serpil Turhan / Schauspielerin
Thomas Weiß / Medienpädagoge
Siegfried Zielinski / Medienwissenschaftler

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