Im Seitenspiegel der Sehnsucht

Kurzfilmprojekt „Take a taxi to daydream” mit deutsch-brasilianischem Regieaustausch zwischen Kiel und São Paulo

Nach Mexico-City und Tokio gilt São Paulo als drittgrößtes urbanes Ballungsgebiet der Welt und das dort ansässige „Festival International de Curtas-Metragens” als wichtigstes Kurzfilmfestival Südamerikas. Die Organisatoren beschlossen vor einigen Jahren, den elitären Charakter ihrer Veranstaltungen aufzubrechen und ihre Kurzfilmprogramme auch in die Subzentren und Armenviertel der brasilianischen Riesenmetropole mit geschätzten 16 Millionen Einwohnern zu tragen.

Ernüchtert musste man jedoch feststellen, dass die gesellschaftlichen Brüche zu groß waren, um das Publikum der Favelas für die gängigen, globalisierten Kurzfilminhalte zu interessieren. So wurde vor rund sieben Jahren die Idee geboren, Filmprojekte von den Menschen, für die Menschen und über die Menschen der Armenviertel zu entwickeln und zu fördern.

Die vom Festivalbüro gegründete Arbeitsgruppe „Oficinias Kinoforum” bietet seither in den sozio-kulturellen Anlaufstellen verschiedener Stadtteile bis zu sieben Filmworkshops pro Jahr an, wo Jugendliche an jeweils drei Wochenenden mit Hi-8 und DV-Technik ihre Filmideen entwickeln, drehen und schneiden. Finanziert vom Festivalbüro und Wirtschaftssponsoren werden die fertigen Filme vor Ort in den Favelas aufgeführt und anschließend beim Kurzfilmfestival gezeigt.

Dort entdeckte auch der Hamburger Filmemacher Dirk Manthey (geb. 1960, Produzent von „Motodrom”) das Projekt, als er sich für Fernsehrecherchen in São Paulo aufhielt, und war sowohl von der Gesamtidee als auch von der sozialen Brisanz und energischen Machart der entstandenen Kurzfilme und Dokumentationen sofort begeistert.

Dirk Manthey (Foto: Lorenz Müller)

Mit dem aus Papenburg stammenden und in Berlin arbeitenden Filmemacher Ansgar Ahlers (geb. 1975) fand er einen enthusiastischen Kooperationspartner, der bereits ein längerfristiges Kurzfilmprojekt zum Thema „Tagtraum” in Arbeit hatte, das sich anbot für eine deutsch-brasilianische Episode, die in Zusammenarbeit mit dem „Oficinias Kinoforum” realisiert werden sollte.

Die Idee war, einen jungen Regisseur aus Deutschland und einen aus Brasilien in die jeweils andere Stadtkultur zu versetzen, um aus diesem kontrollierten Kulturschock kreative Funken zu schlagen. Mit Hilfe eines lokalen Filmteams sollte auf Basis eines gemeinsamen Drehbuchs ein Kurzfilm zum Thema „Tagtraum” entstehen, der die traumähnliche Situation des Neuen und Unbekannten in fremder Umgebung sowohl inhaltlich als auch bei den Produktionsbedingungen widerspiegelt.

Ein fahrendes Taxi als Handlungsort bot sich an, weil das Taxi fester Bestandteil der filmischen Stadt-Mythologie ist und außerdem ein Fahrzeug des Übergangs, das oft am Anfang und am Ende einer langen Reise steht. Im Taxi erlebt der Passagier die Verunsicherung des Neuankömmlings oder die Melancholie des Aufbruchs wie in einer rollende Klosterzelle. In bewusster Abgrenzung von den mächtigen Kinovorbildern wie Jim Jarmuschs „Night on Earth” oder gar Scorseses „Taxidriver” wurde eine kleine, schlichte Handlung entwickelt:

Ein nach langer Zeit aus Norddeutschland zurückgekehrter Taxifahrer kurvt durch das ihm fremde São Paulo und gerät in eine bedrohliche Situation mit zwei Jugendlichen, die er mit deutschem Bier und bildgewaltigen Erzählungen vom idyllisch-verträumten Kiel im fernen Europa entschärfen kann.

In der Kieler Episode transportiert dasselbe Taxi einen von Liebeskummer und Alkohol gebeutelten Passagier, zu dem sich eine brasilianische Leidensgefährtin gesellt, die ihn für die Dauer der Taxifahrt ins pulsierende São Paulo entführt.

Die brasilianische Hälfte des Kurzfilms wurde Ende August, unterstützt vom „Oficinias Kinoforum” und dem Goethe-Institut, mit Kameratechnik der Filmwerkstatt Schleswig-Holstein in São Paulo gedreht. Weil weitere Fördermittel zunächst nicht gesichert waren, übernahmen Dirk Manthey (der Portugiesisch spricht) und Ansgar Ahlers kurzerhand selbst die Regie. Für die Hauptrolle des Taxifahrers konnten sie den deutschen TV-Schauspieler Pierre Semmler (geb. 1943) gewinnen, der mit seiner langjährigen Profierfahrung die Arbeit mit den jugendlichen Laiendarstellern bereicherte und selbst auch als bereichernd empfand.

Pierre Semmler (Foto: IMDB)

Die DV-Kamera (Sony PD 150) wurde von Eder Augusto geführt, einem jungen Filmenthusiasten aus den Armenvierteln, der sich über die Workshops des Kinoforums bereits professionalisiert und ein Auskommen beim Lokalfernsehen gefunden hat. Anfang Oktober wird er bei der Kieler Episode auf den Regiestuhl wechseln und den Platz hinter dem Sucher für den Kieler Kameramann Claus Oppermann freimachen.

Trotz der selbstausbeuterischen 14-Stunden-Tage verlief der São-Paulo-Dreh weitgehend reibungslos. Das stundenlang auf der hochhaus-gesäumten Prachtstraße Avenida Paulista kreuzende Taxi, das immer wieder stoppte, zurücksetze und erneut anfuhr, stieß zwar auf die wohlwollende Neugier des Straßenpublikums, blieb aber unbehelligt von der Willkür der Behörden. Nur einmal fand man sich plötzlich umzingelt von sieben (!) Polizeiwagen und ihren übellaunigen Besatzungen, weil die Dreharbeiten für die falsche Straße angemeldet worden waren. Die vom Kinoforum organisierte Produktionsleitung hatte ansonsten aber alles bestens im Griff, so dass immer ein geöffneter Imbiss in der Nähe war, wenn der Hunger eine Drehpause forderte.

Die Avenida Paulista, Drehort in São Paulo

Ende des Jahres sollen erste Ergebnisse der Produktion auf dem Interfilm Festival in Berlin gezeigt werden, und im folgenden Jahr wird das fertige Werk auf dem Kurzfilmfestival von São Paulo präsentiert.

Die intensive Atmosphäre und der hoffnungsfrohe Enthusiasmus aller Beteiligten, machten das Projekt für das Team zu einem unvergesslichen Erlebnis. Für die Jugendlichen, die die soziale Härte und Perspektivlosigkeit der Favelas erlebt haben, war die Möglichkeit, einen Film mit Profis zu drehen oder nach Europa zu reisen, die Erfüllung eines Traums. Nicht nur eines Tagtraums. (Lorenz Müller)

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