57. Internationale Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2007

Kains und Abels – unbewaffnet

„Shotgun Stories“ (Jeff Nichols, USA 2007)

Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, jenes biblische Thema verpflanzt Autor und Regisseur Jeff Nichols in seinem Spielfilm-Debüt in die weiten Agrarlandschaften Arkansas’ und verdreifacht die tragödische (Familien-) Problematik. Die drei Brüder Boy, Son und Mark Hayes haben gerade ihren Vater verloren. Allein, an seinem Grab stehen drei weitere Halbbrüder, geboren aus des Vaters zweiter Ehe, und beißen die Brüder aus erster Ehe weg wie räudige Hunde. Die Folge ist ein erst gärender, dann eskalierender Zwist. Dass an dessen Ende jeweils nur ein Bruder aus den jeweiligen Triumviraten sein Leben lassen muss, dass die Shotguns dann doch nicht gezündet werden, sondern sinken, weil die sechs Söhne des „Adam“ Hayes wissen, dass sie vom selben stammen, darf man als – wenn auch brüchiges – Happy End einer Story lesen, die die Möglichkeit des Brudermassakers stetig in sich trägt.

Rache ist ebenso wie der Brudermord ein ur-biblisches Setting für einen Film, den Jeff Nichols behutsam aus den überdeutlich gesetzten alttestamentarischen Konnotationen löst. So sehr hier angespielt wird auf die mustergültige Familientragödie, so detailgetreu, realistisch und psychologisch präzise sondiert Nichols deren alltägliche Ausprägung. Wenn die Berlinale-Journaille-Stimmen derer, die das schon irgendwie vorher halb gesehen oder zumindest davon läuten gehört hatten, dass der Filmtitel Massakröses vorhersagt, irren, ist das ein Verdienst von Nichols’ Story, die die Shotguns zwar martialisch in Anschlag bringt, aber doch keinen Schuss fallen lässt. Nicht zuletzt erkennt man darin eine postmodern ironische Reaktion auf all die „Zwölf Uhr Mittage“ des Westerns. Die Schüsse fallen nicht, sondern rohrkrepieren lange vorher in den Herzen und Seelen der Protagonisten – die Verheerungen darin sind freilich nicht mindere als die von Schussverletzungen.

Die Waffen der Herzen nur scheinbar gezückt – „Shotgun Stories“ (Foto: Berlinale)

Oder anders ausgedrückt: Die Sprache des Blutes (der patchwork-familiären Herkunft) braucht vielleicht die Möglichkeit des realen Schlagaderausflusses, kann aber hinter dem zurückbleiben, weil auch ohne Massaker die Problematik gestörter Familienverhältnisse fassbar wird. Nichols’ luzides Spiel mit der Ahnung von gleich mehreren Western-Showdowns auf der einen Seite und dialogisch ausgefeiltem Räsonnieren über die Verwerfungen in diesem multilateralen Seelenverbund auf der anderen Seite schafft eine Spannung, die Zuspitzungen zwar inszeniert, aber darauf dennoch verzichtet. Das Drama braucht keine Waffen, auch wenn die mehrfach durchgeladen werden. Der Schuss wird nicht real abgefeuert, sondern immer nur als Symbol. Nicht anders ist es mit den Kainsmalen auf den Brudermörderstirnen: Sie erscheinen nicht, sie werden verhandelt.

Ein Film, der überzeugend mit Genres und ihren Stereotypen spielt und dabei seinen Figuren näher kommt als es ein übliches Drama könnte. Wir verlassen das Kino seltsam unaufgeregt, einverstanden damit, dass die Gewalt der Herzen keine Shotguns braucht – aber so gut erzählte Stories. (jm)

Shotgun Stories, USA 2007, 92 Min., 35 mm. Buch, Regie: Jeff Nichols, Kamera: Adam Stone, Darsteller: Michael Shannon, Douglas Ligon, Barlow Jacobs, Natalie Canderday, G. Alan Wilkins

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