57. Internationale Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2007

Faustischer Kampf der Kulturen

„Takva“ (Özer Kiziltan, TÜR/D 2007)

An Fausts Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Seelenheil und Scheitern an und in der Welt muss man unwillkürlich bei Muharrems Zwist zwischen Frömmigkeit und deren Lebbarkeit denken. Allein, bei Faust steht der „abendländische“, christliche Glaube zur Disposition, bei Muharrem ist es der Islam. Eine Auseinandersetzung im Film, die auf realpolitischer Ebene umso virulenter ist: Die Türkei zwischen Islam als traditionell verankerter Kultur und dem säkularisierten, kapitalistischen „Westen“, an den sie sich derzeit nicht nur in ihren Bemühungen um einen EU-Beitritt annähert. Die (Kultur-) Kämpfe zwischen Glaube und Welt, die es bis dahin auszufechten gilt, sind nicht nur Muharrems.

Özer Kiziltans „Takva“, verdolmetscht „Ein gottesfürchtiger Mann“, ist somit nicht nur ein Film über die Probleme des gegenwärtigen „Kulturkampfs“ in der Türkei, er stellt Fragen, wirft Probleme auf, die überzeitlich, allgemeinmenschlich – also „faustisch“ sind. Muharrem (ungemein glaubwürdig gespielt zwischen gottesfürchtigem Moslem und weltlich Verführtem von Erkan Can) ist ein frommer „Nerd“. Der Koran und seine Regeln geben ihm Sicherheit in seinem asketischen, eigenbrötlerisch einsamen Leben. Tiefer Glaube hat eben auch immer die Funktion der „Komplexitätsreduktion“, macht die Existenz und das, was einem in ihr widerfährt, übersichtlich, überschaubar, „glaubwürdig“. Doch Allah hat etwas vor mit dem kleinen fleißigen Buchhalter einer expandierenden Istanbuler Handelsfirma. „Was dich außergewöhnlich macht, ist, dass du so gewöhnlich bist“, weiß Sheik, Oberpriester einer islamischen Sekte, die nicht nur in den Geschäften Gottes tüchtig ist, sondern auch in allzu weltlichen. Benötigt wird ein verlässlicher Eintreiber für die Mieten der sekteneigenen Immobilien. Muharrem scheint dafür genau der Richtige, denn er ist rechtschaffen und im eigentlichen Sinne des Wortes harmlos: der perfekte „Buchhalter Allahs“. Wenn auch zweifelnd nimmt Muharrem diesen Auftrag an. Doch wer den schnöden Mammon eintreibt, gerät unweigerlich in den Sog weltlicher Kompliziertheiten. Und in betrügerische Geschäfte, die Allah so sicher nicht geplant hatte. Oder doch? Eine Bewährungsprobe für den frommen Moslem?

Glaubwürdig scheiternd an Gott und Welt: Erkan Can in „Takva“ (Foto: Berlinale)

Kämen zu all den Verwicklungen in ein mafiöses Geschäft, in das Muharrem ob seiner Gutgläubigkeit immer unrettbarer hineingezogen wird, nicht auch noch jene verboten lüsternen Träume ... Immer wieder träumt Muharrem von schmutzigem, nassen Sex mit einer Schönen, die sich im wachen Leben, das ihm wie die (Alp-) Träume mehr und mehr unerträglich wird, als Tochter des Oberpriesters entpuppt. Hin und her gerissen zwischen verwirrenden, allzu menschlichen Bedürfnissen und der göttlichen Aufgabe, die so ganz weltlich in der Gosse mündet, muss Muharrem scheitern wie einst Faust – oder wie Cahit (Birol Ünel) in Fatih Akins „Gegen die Wand“, der 2004 den Goldenen Bären gewann. Dass man Akin und seine Kollegen Klaus Maeck und Andreas Thiel der Hamburger Corazon Film als deutsche Co-Produzenten in den Credits von „Takva“ findet, ist somit kein Zufall.

Kiziltan erzählt diesen fürchterlichen „Abstieg“ eines Gottesfürchtigen parabelhaft. Muharrem ist ein Pars pro toto, ein Mensch wie wir alle, ein Glaubender, der an den Verhältnissen der globalisierten, nicht mehr in Glaube, Liebe, Hoffnung geborgenen Welt seinen Glauben wenn nicht verlieren, so zumindest verraten muss. In expressionistischen Bildern, gerade in den Traumsequenzen, vermittelt uns dies Soykut Turans Kamera, kongenial unterstützt von einem Sounddesign (Gökçe Akçelik) mit geradezu sinfonischer Dramaturgie. Der magisch-mantrahafte „Beat“, nach dem die Muslime in einer der ersten Sequenzen des Films in wachsender Ekstase beten, fragmentiert sich mit Muharrems zunehmender Verwirrung mehr und mehr zu einem Audio-Horrortrip mit technoider Industrial-Beschleunigung. Musik, die vom „halal“ zum „harrem“, vom Gottesdienst zum Gossenlied wird – beeindruckend!

So beeindruckend wie dieser trotz aller Opulenz einfühlsam zurückhaltend erzählte Film, dem die FIPRESCI-Jury den Panorama-Preis verdientermaßen zusprach. (jm)

Takva, TÜR/D 2006, 96 Min., 35 mm. Regie: Özer Kiziltan, Buch: Önder Çakar, Kamera: Soykut Turan, Schnitt: Andrew Bird, Musik/Sounddesign: Gökçe Akçelik, Produktion: Sevil Demirci, Önder Çakar, Co-Produktion: Fatih Akin, Klaus Maeck, Andreas Thiel, Darsteller: Erkan Can

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