57. Internationale Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2007

Doppelte Mütter

„Was am Ende zählt“ (Julia von Heinz, D 2007)

Carla sieht wie ein Püppchen aus und hat auch nur ähnlich viel im Kopf, mag man meinen. Frisch auf dem Weg nach Lyon, wo sie Modedesign studieren will, lässt sie sich zunächst das mit reichlich Startkapital gefüllte Portemonnaie und gleich danach noch das gesamte Reisegepäck klauen. Jetzt ist sie mittellos und strandet ausgerechnet bei Rico, der ihr zwar einen Job auf einer Baustelle in Aussicht stellt, sie im Gegenzug aber sogleich schwängert. Doch immerhin hat sie den Absprung von zu Hause, aus dem Einflussbereich des für sie unerträglichen Vaters, geschafft – ein schwacher Trost allerdings in diesem Crescendo der Katastrophen.

Herzerfrischend gegensätzlich: Paula Kalenberg als Clara ...

Lucie arbeitet ebenfalls auf der Baustelle, einem Boot, das zur Kneipe umgebaut werden soll. Sie, ein Heimkind, möchte sich im Gegensatz zu Clara ihre Familie bestmöglichst erhalten: Auf ihren Bruder Michael, der frisch aus der Jugendhaft entlassen und glücklicherweise gerade nicht auf Droge ist, lässt sie nichts kommen. Schließlich nisten sich die drei in einer zunächst völlig verwahrlosten Plattenbauwohnung ein, nehmen eine Heimarbeit an, um sich über Wasser zu halten, und Carla führt ein Leben jenseits jeder behördlichen Registrierung – und leider auch ohne Krankenkassenkarte. Als die Geburt des Kindes näher rückt, finden die beiden jungen Frauen eine trügerische Lösung: Carla nimmt Lucies Identität an und bekommt ihre Tochter unter Lucies Namen. Was später, wie der Zuschauer schon ahnt, zu dramatischen Entwicklungen führen wird ...

... und Luise Schramm als Lucie (Fotos: Berlinale)

Die Schauspielerinnen Paula Kalenberg (Carla) und Marie Luise Schramm (Lucie) sind als Typen herzerfrischend gegensätzlich und verkörpern ihre Rollen entsprechend: Vor den Augen des Zuschauers wächst die eigentümliche Freundschaft der entschlossenen, aber rettungslos naiven Carla und der tatkräftigen, liebevollen, grobschlächtigen Lucie. Beeindruckend, zu wie viel Echtheit in der abgewrackten Umgebung (grandioses Szenenbild: John Quester) es die Darsteller bringen, so auch Benjamin Kramme in der Rolle des labilen Bruders Michael und Vinzenz Kiefer als Ekelpakat Rico. Im Film sind die Männer so rein gar nicht positiv besetzt, so dass es einen Wunder nimmt, wenn Regisseurin Julia von Heinz meint, sie habe die Männer gar nicht ungnädig dargestellt. Die Frauen in „Was am Ende zählt“ sind halt die Stärkeren – und ein Kind solle durchaus von zwei „Müttern“ ins Leben begleitet werden, eher als nur von einer, und nicht zwingend von Mutter und Vater, meint die Regisseurin, die zusammen mit John Quester auch das Drehbuch verfasst hat. Aber in dem Film geht es noch um mehr, um Freiheit, Verantwortung, Bindungen, Überlebensstrategien. Dabei wird der Blick nicht rückwärts gewandt, auf das Heimkindschicksal Lucies oder Carlas Konflikte mit den Eltern, sondern bleibt in der erzählten Zeit – was gut gelingt, denn so wirkt der Film nicht psychologisierend.

Die Hauptdarstellerinnen Paula Kalenberg und Marie Luise Schramm sind 20 und 22 Jahre alt und doch beide schon jahrelang im Filmgeschäft; Marie Luise Schramm war mit erst neun Jahren erstmals als Synchronsprecherin tätig, trat bereits in verschiedensten TV-Serien auf und war u.a. in Filmen wie „Das letzte Versteck“ (2002), „Bin ich sexy?“ (2004) und „Komm näher“ (2006) auf der Kinoleinwand präsent. Paula Kalenberg, zuletzt 2005 in dem Kinofilm „Die Wolke“ und demnächst in der Verfilmung von „Krabat“ zu sehen, verkörperte 2005 in einer ZDF/3SAT-Produktions von Schillers „Kabale und Liebe“ an der Seite von August Diehl und Götz George die Louise Millerin. Beide Darstellerinnen spielten bereits 2002 in einer Folge des ARD-„Tatorts“ ein Duo mit ähnlich desolatem Background wie im vorliegenden Film.

„Was am Ende zählt“ entstand an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg in Kooperation mit dem WDR und Arte und ist das erste lange Regiewerk der 1976 geborenen Julia von Heinz, die bereits mehrere preisgekrönte Kurz-Spielfilme realisiert hat („Lucie & Vera“, „Doris“, „dienstags“). Produziert wurde „Was am Ende zählt“ von der jungen Berliner credofilm GmbH, die programmatisch „am individuellen Geschichten Erzählen“ festhält und dabei „gute Ideen, motivierte Filmemacher und feines Handwerk“ unterstützt. Dieses alles kann man für den Film ankreuzen – aber solche Filme über sich jenseits der Rosamunde-Pilcher-Romantik durchschlagende junge Frauen schaffen es zumeist allenfalls ins Spätprogramm öffentlich-rechtlicher Sender. Deshalb bitte kräftig die Daumen drücken, damit ein Kinoverleih für diese auf unspektakuläre Weise spannend, glaubwürdig und intensiv erzählte und gespielte Geschichte gefunden wird. (gls)

Was am Ende zählt, D 2007, 90 Min., 35 mm. Buch: John Quester, Julia von Heinz, Regie: Julia von Heinz, Kamera: Daniela Knapp, Schnitt: Florian Miosge, Darsteller: Paula Kalenberg, Marie Luise Schramm, Benjamin Kramme

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