48. Nordische Filmtage Lübeck

„To exist is to resist“

„Das Mädchen aus Auschwitz“ („Flickan från Auschwitz“, Stefan Jarl, Schweden 2005)

Es war ein Schlüsselerlebnis, als Stefan Jarl als kleiner Junge im Kino nebenan, in das er sich oft heimlich schlich, dokumentarische Filmbilder von den Leichenbergen in deutschen Konzentrationslagern sah. „Die Bedeutung der Filmkamera und die Wichtigkeit des Dokumentierens war mir mit einem Schlag klar geworden“, erzählt der schwedische Dokumentarfilmer. Manches verbindet ihn darin mit seiner Landsfrau Cordelia Edvardson, die 1929 in Berlin als Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer und eines jüdischen Vaters geboren und 1943 über Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt wurde. Ein glücklicher Zufall verschonte sie vor der Mordmaschinerie der Nazis, denn sie wurde nach Schweden deportiert. Dort wurde sie eine wache Journalistin, die 1974 nach Israel übersiedelte und seither von dort als Korrespondentin für mehrere schwedische Zeitungen berichtet. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ihr Hauptthema, über das sie auch mehrere Bücher veröffentlicht hat. Sie gilt als streitbar, weil sie als Jüdin und ehemalige KZ-Insassin dennoch scharf die israelische Besatzungspolitik in Palästina kritisiert.

Foto: NFL

Und genau das ist Thema in Jarls Porträt „einer für mich Heldin, eines Vorbilds dafür, die Welt nicht nur mit einem Auge, sondern mit allen beiden zu sehen“. Kein Auschwitz-Film also, Edvardsons Vergangenheit im KZ wird nur am Rande erzählt. Was Jarl faszinierte, war die Art und Weise, wie das Grauen des Holocaust Edvardson nicht wie viele ihrer Leidensgenossen, die überlebten, in eine lebenslange Opferrolle drängte. Denn Opfer zu sein, kann blind machen, besonders für die eigenen Taten, die aus dem Opfer Sein folgen. Edvardson interpretiert in ihren Reportagen und Büchern die unbarmherzige Härte der israelischen Besatzungpolitik so: „Die Israelis wurden zu Gefangenen der Vergangenheit, die Angst vor einem neuen Holocaust bestimmt ihre Politik.“

Und gegen die opponiert sie, wobei Jarls Kamera sie begleitet. Zu einem Checkpoint an der Grenze zum Gaza-Streifen, wo israelische Militärs die Plästinenser drangsalieren, in die Zentren des palästinensischen Widerstands, wo an den Häuserwänden Graffiti wie „To exist is to resist“ stehen, was Edvardsons Lebensmotto sein könnte. Die Existenz als Überlebende verpflichtet, (schreibenden) Widerstand zu leisten, wenn die Opfer von damals zu Tätern von heute werden, auch wenn ein anderes Graffito, das die Kamera in Blick nimmt – „From Warsaw Ghetto to Abu-Dis Ghetto“ – die komplexe Situation im Nahen Osten und ihre Verknüpfung mit der Shoa allzu kurzschlüssig auf den Punkt bringt.

Ein Film gegen das zu schnelle und kurzschlüssige Urteil, dem Jarl ein Zitat von Peter Sloterdijk voran stellt: „Der Feind ist jemand, der sich entschlossen hat, die Komplexizität der Welt nicht mit dir zu teilen.“ Genau nach diesem Satz handeln Edvardson in ihren Artikeln und Büchern und Jarl in einem Film, der ein Film über Israel und Palästina ist, weil er kein Film nur über Auschwitz ist. Geschichte ist komplex, sie wiederholt sich nicht, es sei denn die frühere Tragödie als heutige Farce. Als so verstandene, komplexe, nicht Antworten gebende, sondern Fragen stellende Bilder wirken dann auch die, die Jarl von der Mauer machte, die die Israelis um die palästinensischen Gebiete errichten – „doppelt so hoch wie die Berliner Mauer“. So wird sowohl die Komplexizität einer politischen Situation nicht verkürzt wie auch die einer politischen Person: Cordelia Edvardson. „Die Verletzungen der Vergangenheit haben ihr Augen gegeben zu sehen“, weiß Jarl im Off-Text. Und da ist es kein Kitsch, sondern komplexes Symbol, wenn er am Ende dieses beeindruckenden dokumentarischen Porträts einen Schmetterling filmt, der sich auf den Fugen der neuen Mauern niedersetzt, um sich dann in den Himmel jener Hoffnung zu erheben, dass Mauern – historische wie beton-heutige – zwischen Menschen etwas sind, das man überwinden kann – und muss. (jm)

„Das Mädchen aus Auschwitz / Flickan från Auschwitz“, Schweden 2005, 76 Min., 35 mm, Regie: Stefan Jarl.

zurück zum Inhalt