48. Nordische Filmtage Lübeck

Schuldig mit kaltem Herzen?

„Sommer ’04“ (Stefan Kromer, Deutschland 2006)

„Sommer ’04“, ein Film von Daniel Nocke (Buch) und Stefan Kromer (Regie), dem die hohen Weihen der diesjährigen Festivaleinladung in Cannes voranrauschen. Und natürlich der „Nimbus“ seiner mit Grimme- und Deutschem Fernsehpreis gekrönten (freilich für andere Filme), erfolgreichen Macher. Aber das ist unfair: vielleicht können die beiden ja gar nicht so viel für ihren Erfolg? Und man sollte den Film doch unvoreingenommen betrachten.

Filmplakat zu „Sommer ’04“

Zuerst einmal handelt es sich bei „Sommer ’04“ um eine Liebesgeschichte, eine, die zum tödlichen Seelendrama wird. Ein junger Deutsch-Amerikaner, Bill (Robert Seeliger), 38 Jahre alt, steht zwischen zwei Frauen; Moment mal: nicht zwischen zwei Frauen, sondern zwischen einer 40-jährigen und einer frühreifen 12-jährigen. Eine ungewöhnliche Ausgangsposition, um nicht zu sagen absurd und dennoch bekannt: „Lolita“ lässt grüßen. Aber das macht den Film erst einmal interessant, wenn man sich darauf einlässt. Wie gehen die Erwachsenen mit dieser Geschichte um?

Ein Sommer an der Schlei. Miriam (Martina Gedeck) verbringt zusammen mit ihrem Lebensgefährten André (Peter Davor) und dessen 15-jährigen Sohn Nils (Lukas Kotaranin) die Ferien in dieser idyllischen Landschaft. Nils bringt seine Freundin mit, die drei Jahre jüngere Livia (Svea Lohde), die ihm aber in ihrer psychischen und verstandesmäßigen Entwicklung weit voraus zu sein scheint. Diese 12-jährige, bei aller Affinität zum Erwachsensein dennoch eine junges Mädchen, verliebt sich beim Segeln in Bill; was noch nachvollziehbar ist, ja eher als alltäglich erscheint. Bill verspürt aber bei sich selber auch mehr als Sympathie. Und die 40-jährige Miriam pendelt zwischen Verantwortungsgefühl für das junge Mädchen, Eifersucht und Begehren nach Bill hin und her.

Der Film führt scheinbar ganz einleuchtend zu dieser Konstellation hin, lässt dem Zuschauer grundsätzlich durch seine Auslassungen viel Raum, die eigene Fantasie einzusetzen und sich das Geschehen plausibel zu machen. Das ist seine strukturelle Stärke. Aber das fragwürdige Ende der Feriengeschichte mit tödlichem Ende enttäuscht. Letztendlich geht der Autor dem endgültigen Austragen des Konflikts oder seiner Klärung aus dem Wege. Das psychologisch angelegte Drama erfährt nicht eine ebensolche Lösung, sondern wird an den tragischen Ausgang verschenkt.

Nachdem Miriam nun doch mit Bill ein „Verhältnis“ anfangen konnte, bekennt sich dieser gegenüber ihr zu seiner Liebe zu Livia. Miriam will um Bill kämpfen und ein klärendes Gespräch mit Livia führen. Doch dazu kommt es nicht mehr. Durch einen tödlichen Unfall Livias bei einer gemeinsamen Segeltour mit Miriam bleibt vieles zwischen beiden ungesagt und alles ungeklärt. Nur eines scheint klar: Miriam trifft durch ihre Unachtsamkeit bzw. unterlassene Hilfeleistung zumindest eine moralische Schuld am Tod des Mädchens.

Auf die Gefahr hin, nun auch noch die unglaubwürdige Schlusspointe zu verraten ..., aber sie ist es gerade, die den Film nicht nur zynisch macht, sondern auch das Drehbuch – vom Ende her betrachtet – fast misslungen erscheinen lässt. Und da sollten sich die Macher nicht mit der Erklärung versuchen herauszureden, dass alles gerade durch die offene Struktur des Filmes der Fantasie der Zuschauer überlassen bleibt.

Die besagte Pointe folgt im Epilog. Jahre nach dem bitteren Geschehen an der Schlei treffen Miriam und Bill, die inzwischen ein glückliches Paar zu sein scheinen, in Hamburg Livias Eltern. Livias Mutter (Nicole Marischka) möchte erfahren, ob es ihrer Tochter gelungen sei, wie diese ihr noch am Vorabend ihres Todes in ihrem letzten Brief geschrieben habe, Miriam und Bill zu einem glücklichen Liebespaar zusammen zu führen, so dass der Tod der Tochter ihrer Mutter nicht völlig sinnlos erscheint. Miriam und Bill bejahen diese Frage der sich in Tränen auflösenden Mutter kalten Herzens, eher mitleidlos und scheinbar ohne jegliches Gefühl von Schuld oder Reue. (Helmut Schulzeck)

„Sommer ’04“, Deutschland 2006, 97 Min., 35 mm, Regie: Stefan Kromer, Buch: Daniel Nocke.

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