Der Newsletter zum Thema Medien in Schleswig-Holstein
herausgegeben von
Filmkultur Schleswig-Holstein e.V.



Impressum
Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

67. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2017

Verkehrte Familienverhältnisse

„As duas Irenes“ (Fablo Meira, BRA 2017)
„The Inland Road” (Jackie van Beek, NZ 2017)


Berlinale-Vielgucker kennen das Phänomen: Nach etlichen Filmen mit schwerwiegender Botschaft, trostlosem Milieublick oder vertrackter Narration (gerne auch mal alles in einem) sehnt man sich nach etwas Geradlinigkeit und zumindest einem angedeuteten Happy-End auf der Leinwand. Dann werden die Evergreens der Retrospektive natürlich gerne angesteuert: Da weiß man, was man hat. Oder aber man besucht die „Generation“-Sektionen mit ihrem Angebot an Kinder- und Jugend-Filmen. Keinesfalls soll das heißen, die Generation-Filme seien simpel gestrickt oder wichen problematischen Themen aus. Ganz und gar nicht und eher im Gegenteil. Aber die Filme halten für die meisten der Figuren viel Empathie bereit, und es deutet sich immer ein gangbarer Ausweg aus der Problemsituation an. Das ist nicht nur pädagogisch wertvoll, das tut auch zur Abwechslung mal ganz gut. In diesem Jahr hatte ich Zeit für zwei Generation-Filme, beide toll, in beiden sind die Heldinnen Mädchen, die sich in unerwarteten Familienkonstruktionen zurechtfinden müssen.

„As duas Irenes“



„As duas Irenes – Zweimal Irene“ – Zwei Freundinnen und ein dunkles Geheimnis. (Foto: Berlinale)
Die 13-jährige Irene lebt behütet als älteste von drei Geschwistern in einer wohlhabenden Familie in einer kleinen, malerischen, brasilianischen Stadt. Durch einen Zufall entdeckt Irene aber, dass der gutbürgerliche Schein trügt und ihr Vater eine zweite Familie mit einer gleichaltrigen Tochter hat, die auch Irene heißt. Irene behält das Geheimnis für sich und beginnt, die andere Irene fasziniert zu beobachten: Die Halbschwester lebt alleine mit ihrer Mutter in sehr einfachen Verhältnissen, aber genießt dafür mehr Freiheiten als sie. Eines Tages geht sie auf die „andere Irene“ zu, ohne sich als Schwester erkennen zu geben. Die andere Irene ist selbstbewusster und exaltierter. Sie zieht die schüchterne Irene in ihren Bann und zeigt ihr die Welt aus ihrer Perspektive. Da wird kess mit den Jungs geflirtet und im Dunkel des Dorf-Kinos gibt’s das erste Knutschen. Die ungewöhnliche Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als Irene gesteht, dass sie beide den gleichen Vater haben.

„As duas Irenes“ von Regisseur Fabio Meira ist eine wunderbar leichthändig inszenierte Coming-Of-Age-Geschichte, die sich ganz auf die aufblühende Freundschaft zwischen den beiden ungleichen, heimlichen Schwestern (hinreißend: Priscila Bittencourt und Isabela Torres) konzentriert und das tragische Potential des väterlichen Betrugs im Hintergrund belässt. Stattdessen begleiten wir die beiden durch einen sonnendurchfluteten Sommer mit seinen kleinen Abenteuern. So unterschiedlich die beiden Irenes sind, so gut ergänzen und verstehen sie sich. Die Neugier aufeinander und die Freude aneinander überwindet die unsichtbare Trennwand, die der Vater zwischen ihnen aufgebaut hat. Mit Weisheit und Witz werden sie schließlich einen Weg finden, die vertrackte Familienkonstruktion aufzulösen.

„The Inland Road”



Maori-Teenager Tia trampt entlang der „Inland Road“ auf Neuseelands Südinsel. (Foto: Berlinale)
Mit einem schweren Unfall lässt die neuseeländische Regisseurin Jackie van Beek ihren Film „The Inland Road“ beginnen. Der Maori-Teenager Tia trampt über die Südinsel Neuseelands. Sie wird von zwei Männern, Will und Matt, im Auto mitgenommen. Will verliert auf der Fahrt die Kontrolle über das Auto, das sich mehrfach überschlägt. Matt überlebt den Unfall nicht, Tia kommt mit Gesichtsverletzungen davon und kann Will retten, indem sie Hilfe herbeiholt. Im Krankenhaus bekommt Tia Besuch von ihrem Vater, der ihr lediglich abweisend Geld hinwirft, damit sie wieder nach Hause zu ihrer Mutter fährt. Als Tia nach kurzem Krankenhausaufenthalt – noch im Verband – alleine auf der Trauerfeier für Matt auftaucht und vorgibt, keine Bleibe zu haben, überredet Will seine schwangere Frau Donna, den verloren wirkenden Teenager für eine Weile auf ihrer Farm aufzunehmen. Donna ist mit der Situation nicht glücklich, aber willigt ein, als Tia verspricht, sich auf der Farm nützlich zu machen. Eine Weile geht das gut, doch Donna beschleicht das Gefühl, dass Tia sich an ihren Mann heranmacht. Tia erzählt kaum etwas über sich, und auch ein übergroßes, auffälliges Tattoo an ihrem Hals will sie nicht erklären.

Die emotionale Spannung auf der Farm verschärft sich noch, als May, Matts Witwe und Donnas ältere Schwester, für eine Zeit auf die Farm zieht. May ertränkt ihren Kummer in Alkohol und vernachlässigt die 6-jährige Tochter Lily. Sie wirft Donna vor, sich auf der Farm nach jahrelangem Auslandsaufenthalt breit gemacht zu haben, nachdem sie den Schotten Will geheiratet hat. May gibt Will die Schuld am Tod ihres Mannes. Als Ortsfremder kannte er sich auf der „Inland Road“ nicht gut aus, fuhr aber trotzdem das Auto.


Tia und Lily: Schicksalsgemeinschaft als Ersatzfamilie (Foto: Berlinale)
Tia kümmert sich um Lily, die wiederum Gefallen an der „großen Schwester“ findet. Tia integriert sich mehr und mehr in die Familie, was Donna zunehmend argwöhnisch beobachtet. Als Tia versucht, Will zu verführen, kommt es zur Konfrontation zwischen Donna und Tia. Tia muss ihre Geheimnisse schließlich preisgeben, um sich zu erklären.

Regisseurin und Drehbuchautorin Jackie van Beek erzählt die Geschichte eines traumatisierten, einsamen Teenagers vor dem Hintergrund eines tragischen Unfalls. Die Schicksalsgemeinschaft wird aus Trostsuche und Hilfsbereitschaft für kurze Zeit eine Ersatzfamilie, die aber alsbald wieder zu zerbrechen droht. Das Mitleid kennt eine Grenze.

„The Inland Road” lebt von den handverlesenen Darstellern und der schroffen Naturlandschaft Neuseelands im warmen Herbstlicht, mit der Kameramann Giovanni C. Larusso die Großaufnahmen der Charaktere kontrastiert. Aus 2.000 Jugendlichen wurde Gloria Popata für die Rolle der Tia ausgewählt. Ihr ungeschultes, zurückhaltendes und ein wenig steifes Spiel passt hervorragend zu ihrer Rolle als verschlossener Teenager mit dunklem Geheimnis. Chelsie Preston Crayford gibt die geradlinige und pragmatische Ehefrau Donna und sorgt für eine überzeugende Spannung zwischen den Figuren.

Ich kann mich nicht erinnern, einen Besuch in dieser Sektion schon einmal bereut zu haben und es ist schade, dass die meisten der Filme hierzulande nicht zu sehen sein werden. Auch „The Inland Road” wäre ein Start in Deutschland zu wünschen, um die heimische Palette an Jugendfilmen um ein glaubhaftes, spannendes und berührendes Drama zu ergänzen. (dakro)

„As Duas Irenes“, Brasilien 2017, 89 Min. Farbe; Regie und Buch: Fabio Meira; Kamera: Daniela Cajías; Schnitt: Virginia Flores; Musik: Edson Secco; Darsteller: Priscila Bittencourt, Isabela Torres, Marco Ricca, Inês Peixoto, Susana Ribeiro; Produktion: Lacuna Filmes

„The Inland Road“, Neuseeland 2017, 80 Min. Farbe; Regie und Buch: Jackie van Beek; Kamera: Giovanni C. Lorusso; Schnitt: Luca Cappelli, Tom Eagles; Musik: James Kenyon, Nick Huggins; Darsteller: Gloria Popata, David Elliot, Chelsie Preston Crayford, Georgia Spillane, Jodie Hillock; Produktion: Sabertooth Films Ltd