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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

Mut zum Experiment

Rückblick auf das internationale Kurzfilmfest „g-niale“ im Rahmen des 9. garage-Festivals in Stralsund

Die Eröffnung des internationalen Kurzfilmfestivals g-niale 2005 könnte nicht besser die Vielseitigkeit, das bewusste Tasten nach den „outer limits“ von Kunst, Musik und Film sowie den Mut zum Experiment des Festivals und seiner Macher auf den Punkt bringen: Über die Leinwand im ältesten Stralsunder Kino, den „Sundlichtspielen“, flimmert eine exakt 90 Jahre alte Verfilmung von Lewis Caroll’s Klassiker „Alice In Wonderland“.
Der „Dokumat 500“ vor dem Festivalkino „Sundlichtspiele“ (Foto: dakro)
Sphärische Soundscapes flirren durch den Raum und befreien Alice aus ihrer zweidimensionalem Musealität. Der experimentell-elektronische Livesoundtrack des Augsburger Tafelconfects (mit Gast-Elektroniker Boris D. Hegenbart) schafft es, die Schwarz-Weiss-Bilder zu neuem Leben zu erwecken. Nicht jeder Stummfilm überlebt eine Konfrontation mit der Moderne, aber W. W. Youngs Verfilmung musste noch ohne Spezialeffekte auskommen, nutzt lediglich Überblendung sowie Trickschnitt und baut auf Kostüm und sorgsam gewählte Settings. Die Leerstellen darf das Publikum mit seiner Fantasie füllen, geführt durch das Augsburger Tafelconfect und Hegenbart, die nicht nur einfach einen Score abspulen: Die vier Musiker improvisieren auf der Bühne mit Synthesizer, Keyboard, Computer sowie einer mit Stahlwolle und Bürsten bearbeiteten Gitarre ein veritables Elektronic-Noise-Konzert, in dem lediglich kleine Melodien für den zart-lieblichen Gesang von BaronessA bereits im Vorfeld komponiert wurden. Wenige Absprachen für Einsätze und insbesondere „Aussätze“ sind vorgegeben. So bleiben Szenen mit Tanzeinlagen wie der „Tanz der Langusten“ bewusst stumm. Das Ergebnis ist nicht ein klassischer, das dramatische Geschehen auf der Leinwand doppelnder Soundtrack, kein Versuch, den Klavierspieler durch elektronische Spielereien zu ersetzen, sondern ein Freiraum für die Wahrnehmung. Sowohl der Film kommt zur Geltung als auch die schwebenden Improvisationen der vier Musiker.
Augsburger Tafelconfect (Jyrgen Hall, BaronesseA und Sebastian Reier) mit Boris D. Hegenbart nach der Aufführung von „Alice 1915“ (Foto: dakro)
Ein gelungenes Experiment, das als Koproduktion zwischen der Kinemathek Hamburg e.V. und der Werkstatt Bild und Ton enstand und in Stralsund seine dritte Aufführung erfuhr. Nebenbei initierte „Alice 1915“ (infos unter http://alice1915.tk/) eine Förderung des deutschen Musikrates für eine um 18 Minuten auf insgesamt 60 Minuten verlängerte restaurierte Fassung.
Screenshot aus „Alice 1915“ (Foto: Festival)
Die g-niale ist Teil des seit 1996 bestehenden garage Festivals für Kunst, Musik und Film. Die garage versteht sich als Produktionsfestival und Plattform für zeitgenössische Kunst mit einem Schwerpunkt auf medial ausgerichteten Projektarbeiten. Ein Blick in das Archiv unter www.garage-g.de macht schnell deutlich, dass das Festival sich kompromisslos für innovative, experimentell-avantgardistische Ansätze entscheidet und diese in einem ungewöhnlichem Rahmen präsentiert. Als Ausstellungs- und Konzerträume dienen außer der namensgebenden LKW-Garage die Hansestadt-typischen Backstein-Lagerhäuser am Hafen von Stralsund.
Die garage am Hafen von Stralsund (Foto: dakro)
Die Festivalmacher Carsten Stabenow und Gesine Pagels mussten in den vergangenen Jahren schon manche finanzielle Klippe umschiffen, doch konsequent verfolgen sie ihren Anspruch, die garage als Ort eines wirklich internationalen Kunstschaffens zu etablieren. Die nunmehr neunte garage organisieren die beiden Stralsunder, die ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt bereits seit einigen Jahren nach Berlin verlegt haben.
Die g-niale bildet den Abschluss eines dreiwöchigen Festival-Programms mit einem internationalen Kurzfilmwettbewerb, mehreren Screenings mit Kurzdokumentationen und Experimentalfilmen, einem Kinderkurzfilmprogramm in Kooperation mit interfilm Berlin, Preisverleihung und einer Abschlussparty, die diesen Namen mit Sicherheit verdient.
Auch im Programm der g-niale zeigt sich die Offenheit für Ungewöhnliches, wird der Mut zum Experiment belohnt. So tauchen im Wettbewerb zwar auch die professionell produzierten Pointenfilme und Minidramen europäischer Filmstudenten auf, aber auch sperrige, intellektuell fordernde Animationsfilme und trashige Videoexperimente.
Festivalmacher Carsten Stabenow eröffnet den Wettbewerb (Foto: dakro)
Auffallend stark, wie schon im letzten Jahr, sind die Arbeiten spanischer Studenten und Filmemacher. Sie setzten sich in diesem Jahr sowohl beim Publikumspreis, dem „Goldenen Löwen“, als auch beim Jurypreis durch. Der Löwe ging an Oskar Santos, der in „El Sonador“ die Geschichte eines an einer unerklärlichen Schlafkrankheit leidenden spanischen Adligen und seines Arztes erzählt. Der Film ist letzendlich ein Plädoyer für das Träumen und hätte auch als Anstoß für eine Euthanasie-Diskussion getaugt, wäre da nicht das märchenhaft verklärte Ende.
Ein weiterer spanischer Kurzfilm belegte den ersten Jurypreis: „Amuak“ von Koldo Almondoz überzeugte durch eine sinnliche Atmosphäre und schwebende Erzählweise. Der Legende nach kann ein Fischer Sirenen bei Vollmond durch „Miauen“ ins Netz locken. Als der Erfolg sich nicht einstellt, greift er zu weltlichen Methoden, um doch noch eine Meerjungfrau an den Haken zu bekommen. Den zweiten Platz errang Sebastian Wolfs trashige und sehr unterhaltsame Knetgummi-Animation „Bob Log IIIs Electric Fence Story“. Man darf gespannt sein auf den kompletten Film, denn diese Sequenz wird Teil einer Dokumentation über Bob Log sein. Mit „Power Play“ lieferte die Schwedin Cecilla Lundqvist einen sperrige, aber inhaltlich wie formal überzeugenden Animation zum Thema verbale Machtrituale im Alltag männlichen Miteinaders.
Auf der Abschlussparty in der garage am Hafen von Stralsund feierten Publikum und Team mit Live-Konzert und DJ-Set bis zum Morgengrauen das Ende eines weiteren gelungenen Festivals. Es bleibt zu hoffen, dass die Finanzierung für das nächste Jahr aufgestellt werden kann, denn Programmatik und Stil der garage sind im norddeutschen Raum einmalig. (dakro)
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