Der Newsletter zum Thema Medien in Schleswig-Holstein
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Filmkultur Schleswig-Holstein e.V.



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15. Juli 2023 - 13:56

Highlights im KoKi Kiel

Das Kieler KoKi zeigt im Juni und Juli:

Film des Monats


Kevin Macdonald. USA 2011. OmU. 94 Min. OmU
YouTube, das weltweit größte Videoportal im Internet, rief im Jahr 2010 seine Nutzer dazu auf, sich am 24. Juli zu filmen und das entstandendene Material für eine Kompilation in Spielfilmlänge zur Verfügung zu stellen. Aus 80.000 Einsendungen aus 190 Ländern und mit einer Laufzeit von insgesamt 4500 Stunden stellten Produzent Ridley Scott und Regisseur Kevin Macdonald letztlich einen kompakten Film zusammen, der durchaus kinotauglich daherkommt. Sehr erfreulich also, dass der Film, der selbstredend im Internet uraufgeführt wurde, nun auch für die Kinoauswertung verliehen wird. Lange Einstellungen und Sequenzen wechseln sich mit rhythmisch-pointiert geschnittenen Passagen ab, in denen Menschen aus aller Welt beim Zähneputzen und bei der Vorbereitung zur Operation, beim Küssen und beim Streiten, beim Weinen und beim Lachen, beim Fahrradfahren in Korea und beim Käsemachen in der Schweiz zu sehen sind; Menschen, die anderen und sich selbst Geständnisse machen, die lachen und weinen, die kochen, hungern, Krieg führen und sich betrinken. Natürlich ist der Film mit seiner philanthropischen, eher mittelschwer als leicht pathetischen Grundstimmung ein Werbeinstrument, mit dem YouTube und Google die Liebe zu ihren Kunden bzw. den Menschen weltweit kundtun möchte. Doch tatsächlich wird es auch dem miesepetrigsten Zuschauer kaum gelingen, sich nicht zu amüsieren und nicht gerührt zu sein. Life in a Day ist ein Film unserer Zeit, ein kalkuliertes Experiment, das man gesehen haben muss.
Fr 10. – Di 14. 6.

neu in Kiel


Waste Land
Lucy Walker. Brasilien 2010. 98 Min. OmU. Mit Vik Muniz
Auf der weltgrößten Müllkippe Jardim Gramacho bei Rio de Janeiro arbeiten unzählige so genannte Müllpflücker, die „Catadores“. Sie grasen die riesige Fläche nach Recyclingmaterial ab, das sie sortieren und zum Verkauf organisieren. Der weltbekannte brasilianische Künstler Vik Muniz hat vor, sich hier das Material für seinen nächsten Werkzyklus zu suchen. Als er den Ort betritt, sind es jedoch sofort die „Catadores“, nicht der Müll, die ihm ins Auge springen… Was die Dokumentarfilmerin Lucy Walker porträtiert, ist ein Kunstprojekt, das im Laufe seiner Realisierung immer kollektivere Züge trägt, auch den Künstler verändert und die „Catadores“ organisatorisch und künstlerisch würdevoll einbindet. Ein wirklich rührender und dennoch humorvoller Film über Kunst, Würde, Verantwortung und einen der großen Künstler unserer Tage.
Do 26. 5. – Mi 1. 6.

Unter Kontrolle
Volker Sattel. D 2010. 98 Min.
Volker Sattel zeigt Atomkraftwerke aus unbekantem Blickwinkel. Die Kamera streift durch die oftmals menschenleeren, peinlich sauberen Anlagen; der Zuschauer hat viel Zeit, sich in den aufgeräumten Hallen, Kontrollräumen und Freiflächen zu orientieren oder sich dem unvertrauten Klang der gedämpften Geräuschkulissen hinzugeben. Eine Welt, so fern wie aus einem Science Fiction-Film. Ursprünglich sollte der Film erst im Winter in die Kinos kommen; die Atomkatastrophe in Japan sorgte für traurige Aktualität, so dass die Premiere vorgezogen wurde.
Do 26. 5. – Mi 8. 6.

Benda Bilili!
Renaud Barret, Florent de la Tullaye. F 2010. 84 Min. OmU
„Eines Tages werden wir die berühmtesten Behinderten in ganz Afrika sein!“, sagte der polioversehrte Gitarrist Coco einmal. Cocos Band heißt Staff Benda Bilili, und mit der schafft er wenige Jahre später genau das. Auf selbst hergestellten, abenteuerlich improvisierten Musikinstrumenten kreieren die Musiker einen ganz eigenen Sound, der von den Straßen und Parks Kinshasas aus Bühnen und Herzen auf der ganzen Welt erobert. Die Doku über die schrägen kongolesischen Außenseiter erzählt jedoch nicht die klassische Erfolgsgeschichte des typischen Musikfilms. Die Protagonisten sind viel zu stolz und rebellisch, viel zu eigenwillig und unerhört, als dass sie sich ohne weiteres konventionell narrativieren ließen. Der Film erzählt die Geschichte von Leuten, die auf der Straße leben, zwischen vernachlässigten Kindern, Schutt und Müll. Er erzählt von den vom Leben gehärteten Charakteren, die ebenso beeindrucken wie ihre Musik, ohne dabei verkitscht werden zu können. Der Film erzählt von Menschen, die trotz allem an sich glauben. Jahrelang blieben die Filmemacher mit der Band und ihrem Umfeld in Kontakt, beobachteten Proben im verwahrlosten Stadtpark, Konzerte und erste internationale Anerkennungen. Sie gingen dabei einen langen Weg, der schließlich bis zur umjubelten Vorstellung in Cannes führte. Die Musik, die Staff Benda Bilili spielt, ist eine unfassbare Mischung aus Soul, kongolesischem Rumba, Reggae und kubanischer Folklore – ein Phänomen, das es zu entdecken gilt.
Do 2. – Mi 8. 6.

Das Hausmädchen
Im Sang-soo. Südkorea 2010. 106 Min. dt. Fs. Mit Jeon Do-youn, Lee Jung-jae
Die hübsche Eun-yi wird von einer reichen koreanischen Familie als neues Hausmädchen eingestellt, um sich um die kleine Tochter des Hauses und die mit Zwillingen schwangere Mutter zu kümmern. Eines Abends verführt der dominante Hausherr das neue Hausmädchen und beginnt eine Affäre mit ihr. Doch den wachsamen Augen der erfahrenen alten Hausdame Byung-sik entgeht nichts. Sie bemerkt auch als erste, dass Eun-yi schwanger ist. Als sie die berechnende Schwiegermutter und die eifersüchtige Ehefrau einweiht, muss Eun-yi um ihr ungeborenes Kind und bald sogar um ihr eigenes Leben fürchten… Im Sang Soos bildgewaltiger, makellos ausgestatteter Film ist ein Remake des gleichnamigen koreanischen Klassikers von 1960. Die moderne Version erweist sich als hitzige Polemik gegen eine zerstörerische Kultur der Reichen, zwischen deren Designermöbeln, Kleiderschränken und Weingläsern sich das mörderisches Drama unaufhaltsam entspinnt. Explizite Erotik steht hier neben düsterer Hochspannung und ätzender Satire. Der in Cannes bejubelte Film ist einer der erfolgreichsten koreanischen Kinoproduktionen der letzten Jahre und bietet die Möglichkeit, die koreanische Filmlandschaft jenseits von Park Chan-wook und Bong Joon-ho zu erkunden. Ein Film, hinter dessen glänzender Oberfläche ein dunkles, unkontrollierbares Herz schlägt.
Do 9. – Mi 15. 6.

Hana, Dul, Sed – Eins, zwei, drei
Brigitte Weich. Ö 2010. 98 Min. OmU
Ri Jong Hi, Ra Mi Ae, Jin Pyol Hi und Ri Hyang Ok leben in Pyongyang, Nordkorea. Ihr Beruf ist Fußball. Er verschafft ihnen Ansehen. Er macht ihnen Spaß, und sie machen ihn gut. Als Nationalspielerinnen vertreten sie ein Land, das sich dem Rest der Welt in extremer Weise verschließt. Nicht selten gerät ihnen eine internationale Partie zum Vergeltungskampf für Verletzungen aus längst vergangenen Kriegen. Die vier Stammspielerinnen des nordkoreanischen Teams hatten wesentlichen Anteil am kometenhaften Aufstieg des Frauenfußballs der Volksrepublik unter die Top Ten der Welt. Als sie aber die Qualifikation zu den Olympischen Spielen verpassen, beendet das erzürnte Politbüro ihre Karrieren abrupt. Jetzt sehen sich die besten Freundinnen Mi Ae und Hyang Ok nicht mehr oft. Aber wenn sie doch einmal gemeinsam ausgehen, ist die alte Vertrautheit sofort wieder da: dann schlendern sie durch die dunklen Prunkboulevards der Stadt, plaudern über Erinnerungen und den Alltag ohne den geliebten Sport. – Das erstaunlichste an diesem Film ist für viele Menschen wohl der Umstand, dass er überhaupt zustande kommen konnte, herrscht im Land der Juche-kommunistischen Kim-Dynastie doch strengste Kontrolle aller medialen Erzeugnisse. Und schon gar nicht dürfen ausländische Kamerateams sich frei ihre Themen wählen oder sich bewegen. Glücklicherweise entstand zwischen der österreichischen Filmemacherin Brigitte Weich und Ryom Mi Hwa, verantwortliche Mitarbeiterin der staatlichen Filmagentur Korfilm, ein engagierter Kontakt, der das Projekt möglich werden ließ. Zugute kam dem Projekt sicherlich auch die landesweit große Begeisterung für den Frauenfußball, der sich vom politisch motivierten Prestigegehabe zum Publikumsmagneten entwickelt hat – nicht zuletzt natürlich aufgrund der internationalen Erfolge, die die Damen aus Nordkorea seit Jahrzehnten erringen konnten. – Hanna, Dul, Sed bietet im Übrigen einen kleinen Vorgeschmack auf eine Nordkoreanische Filmreihe, die das KoKi gemeinsam mit Korfilm (unter engagierter Hilfe von Frau Ryom Mi Hwa!) und zwei weiteren deutschen Kinos organisiert.
Do 16. – Mi 29. 6.

Metaller die auf Brüste starren
Dmitry April, Thorsten Hänseler. D 2010. 91 Min
Das Wacken Open Air zieht als größtes Heavy Metal-Festival der Welt stehts auch Filmemacher an, die das laute Treiben zu dokumentieren trachten. Spektakulär genug ist die ganze Angelegenheit schließlich auch: Wacken ist ein sehr kleines Dorf, in das in jedem Jahr unfassbar viele Langhaarige einfallen, die so ganz anders erscheinen als der Bauer und die Edekadame aus der Region. Auf den Bühnen stehen die Lautesten, die Aggresivsten und die Skurilleren, und die bierselige und friedlich-ausgelassene Stimmung des Festivals gebiert regelmäßig neue obskure Traditionen und Rituale. Nach diversen Fernsehreportagen und der erfolgreichen „Heimatfilm“-Dokumentation Full Metal Village ist nun ein weiterer Wacken-Film zu sehen. Der Titel verrät schon einiges: Es gibt zwar kaum Brüste zu sehen, das mag irreführend sein, zu besichtigen ist jedoch ein Gang durch das Wackenwochenende aus der Innenperspektive. Metaller die auf Brüste starren ist ein Fanfilm. Dies hat zweierlei zur Folge. Erstens wirkt der Film bisweilen wie ein langes Homevideo. Zweitens jedoch fängt er in äußerst ansteckender Manier den Geist des Festivals ein. Man spürt den Spaß, den die Filmemacher dabei hatten, Gleichgesinnte und sich selbst beim Spaßhaben zu beobachten. Die Kamera fängt die Sprechchöre, die Bierduschen, die Moshpits, die Selbstinszenierungen und Selbstdemontagen der Zuschauer ein. Deren Euphorie, sich mal für ein paar Tage unsanktioniert daneben zu benehmen zu dürfen, kommentiert der Film leicht ironisch, aber mit viel Liebe. „Das schlimmste ist, wenn das Bier alle ist!“ Das KoKi stellt schon einmal eine extra Kiste kalt.
Mo 27. – Mi 29. 6.

Ulrich Köhler. D/F/NL 2011. 91 Min. dt.Fs. und OmU. Mit Pierre Bokma
Ebbo und Vera Velten leben als Entwicklungshilfe-Mediziner seit Jahrzehnten in Afrika. Nun müssen sie sich aus Kamerun verabschieden, wo Ebbo ein Schlafkrankheitsprojekt leitete. Zusammen mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Helen, die in Deutschland ein Internat besucht, verbringen sie ein paar Urlaubstage vor dem Umzug. Das Haus wird aufgelöst, eine letzte Evaluation mit den einheimischen Partnern macht die Sinnlosigkeit einer Verlängerung des Projekts deutlich. Vera möchte zurück ins deutsche Leben, zur Tochter. Am letzten Tag – Vera und Helen sind schon abgereist – steht Ebbo im ausgeräumten Haus und kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. An dieser Stelle leitet ein harter Schnitt eine zweite Handlungsphase ein: Alex Nzila, ein französischer Mediziner mit kongolesischen Wurzeln, soll für die Weltgesundheitsorganisation den Stand eines Schlafkrankheits-Projekts protokollieren. Dessen Leiter heißt Ebbo Velten, ist aber unauffindbar. Geschwächt von einer plötzlich auftretenden Krankheit landet Alex Nzila in einer mysteriösen Welt, deliriert zwischen heruntergekommen Hospitälern und fantastischen Touristen-Projekten herum... Die erste Hälfte von Schlafkrankheit erinnert an diese gerade wieder modernen Ausbreitungen von Innerlichkeit auf der Leinwand. Diesmal mit dem dekorativen Hintergrund Afrikas. Doch eine raffinierte Ellipse mit Perspektivenwechseln irgendwo in der Mitte enttarnt eine sehr reizvolle Psycho-Story in der Tradition von Joseph Conrad. Wie sich einst Colonel Kurtz in „Apocalypse Now“ mit Captain Benjamin L. Willard das eigene Exekutionskommando bestellte, holt sich der flämische Dr. Ebbo Velten jemanden von der Weltgesundheitsorganisation zur Evaluation seiner sinnlosen Impfprojekte, weil er aus eigener Kraft nicht mehr von Afrika loskommt. – Der 1969 in Marburg/Lahn geborene Regisseur Ulrich Köhler lebte 1974-79 mit seiner Familie in Zaire, heute Kongo. Nach seinem Spielfilmdebüt Bungalow (2002) sowie Montag kommen die Fenster (2006) kehrt er mit dieser überraschenden Geschichte nach Afrika zurück. „Ihm gelingt dabei ein überraschender, schöner und ganz schön kluger Film.“ (programmkino.de)
Do 30. 6. – So 10. 7.

Noise And Resistance
Francesca Araiza Andrade, Julia Ostertag. D 2011. 91 Min
Der Dokumentarfilm porträtiert eine weltweit florierende, traditionsreiche Szene, die eine Alternative zur marktwirtschaftlichen Logik des realexistierenden Kapitalismus zu leben sucht. DIY – Do it yourself! – ist hier das Schlagwort. Musiker, Veranstalter, Gastronomen, Verleger arbeiten für die Sache, Profit wird intern weiter verwertet oder sekundären Organisationen zur Verfügung gestellt. Es geht um die Kulturgüter der Szene, um deren Ideale und die beteiligten Individuen, nicht um den Gewinn weniger. Das hat viel mit Punkmusik zu tun, aber im Grunde geht es um mehr, um Grundsätzliches. So deckt auch die Dokumentation viele Themen und Milieus ab: Haubesetzer in Barcelona, queeres Berlin, Frauenbands aus Skandinavien, antifaschistische Initiativen und die Geschichte der DIY-Bewegung im Speziellen. Die Haltung – und die Wut – der Szene spiegelt der Film selbst wider. Voller Musik und Energie führen uns die Regisseurinnen an Schauplätze heran, an denen Gemeinschaften ihre Unabhängigkeit und ihre antikommerziellen Utopien verteidigen.
Do 30. 6. – Mi 6. 7.

Good Bye Tibet
Maria Blumencron. D 2011. 90 Min. OmU
Vor zehn Jahren führte der Bericht eines Bergsteigers aus dem Himalaya die Regisseurin und Autorin Maria Blumencron erstmals nach Tibet. Die Frage, warum Eltern ihre kleinen Kinder über bis zu 6000 Meter hohe Grenzpässe nach Indien ins Exil schickten, ließ sie nicht mehr los. Sie begann Nachforschungen anzustellen und schaffte es, Kontakt zum tibetischen Untergrund aufzunehmen. – Maria Blumencron berichtet von streikenden Filmkameras und abgebrochenen Expeditionen, von weinenden Müttern und verzweifelten Flüchtlingen, von zudringlichen Yak-Nomaden und aufopferungsvollen Führern, von Verfolgungen und Verhören durch die chinesische Polizei, von Hunger und Erfrierungen, Gebeten und Ritualen. Und sie lässt einen Khampa-Tibeter sein Leben erzählen, der als Fluchthelfer schon fast eine Legende ist: Kelsang Jigme.
7. – 13.7.

Herzensbrecher
Xavier Dolan. Kann 2010. 95 Min. dt.Fs. Mit Xavier Dolan, Monia Choukri, Niels Schneider, Anne Dorval
Gleich mit seinem ersten Film J’ai tué ma mère (zu deutsch I Killed My Mother) machte der damals 21jährige Xavier Dolan Furore – in Cannes gleichermaßen wie an den Kassen der internationalen Arthouse-Kinos. Nun kommt der heiß ersehnte Nachfolger in die Kinos – eine elegant erzählte, inhaltlich frische Dreiecksgeschichte um Marie und Francis, die es beide auf denselben jungen Mann abgesehen haben. Aber der Reihe nach: Marie und Francis sind befreundet, aber kein Paar. Beide sind zurzeit solo, und da sie hetero ist und er schwul, erhöht sich die Chance, dass sie im selben Fanggebiet unterwegs sind. Auftritt Nicolas, ein gut aussehender junger Mann vom Lande. Sowohl Marie als auch Francis beginnen, um dessen Gunst zu buhlen. Sie deuten jedes Wort und jede Geste, seien sie auch noch so vage, als Liebesbeweis, kaufen ihm Geschenke und machen sich Hoffnungen. Nicolas ist freundlich zu beiden und scheint das Spiel zu genießen, aber legt sich nicht fest und im Gegensatz zu Marie und Francis ahnt der Zuschauer bald, dass die beiden ihren eigenen Illusionen erliegen (das deutet ja auch der französische Originaltitel Les amoures imaginaires an, den man hierzulande in das universale Herzensbrecher umdichtete – na ja, deutsche Filmtitel eben). Sehnsucht macht blind, das wird spätestens klar, als es bei einem gemeinsamen Ausflug des Trios zu einer eifersüchtigen Rauferei zwischen den alten Freunden kommt und das Objekt der Begierde nicht eingreift, sondern dem Geschehen nur genüsslich zuschaut. Es fehlt nicht viel, und über die eingebildete Liebe geht viel Porzellan zu Bruch… Inhaltlich hört sich diese Geschichte gar nicht mal besonders neu und innovativ an, und in der Tat liegen die Qualitäten des Films vor allem in seiner formalen Frische. Die Verehrung für das Filmschaffen der sechziger Jahre atmet aus jeder Pore dieses mit vergleichsweise geringem Budget privat finanzierten Films, bei dem Dolan nicht nur eine der Hauptrollen übernahm, sondern auch selbst produzierte und das Drehbuch schrieb. Und dennoch wirkt sein Regiewerk keine Minute altmodisch. Nostalgie und Modernität verquicken sich in idealer Weise und thematisieren ein universelles Thema: die Suche nach Zuneigung, die daraus resultierenden Hoffnungen und Illusionen und die Enttäuschung bei Zurückweisung.
14. – 27.7.

Ein Tick anders
Andi Rogenhagen. D 2010. 85 Min. Mit Jasna Fritzi Bauer, Waldemar Kobus, Victoria Trauttmansdorff, Stefan Kurt, Renate Delfs, Nora Tschirner
Vor ein paar Wochen erst gewann mit Vincent will Meer ein Film über einen Tourette-Kranken den Deutschen Filmpreis, nun kommt mit Ein Tick anders ein weiterer deutscher Film ins Kino, der die seltene Krankheit thematisiert. – Meistens stört ihre Krankheit die Teenagerin Eva gar nicht. Zum einen, weil sie ihre Zeit ohnehin vor allem allein im Wald verbringt, sich mit Eidechsen unterhält und fremden Menschen möglichst aus dem Weg geht. Zum anderen, weil ihre Familie ihre Krankheit nicht nur sehr gelassen hinnimmt, sondern alle Familienmitglieder auf ihre Weise komisch sind. Der Vater ist die Ruhe selbst und arbeitet als Autoverkäufer, die Mutter befindet sich im Dauer-Kaufrausch und sagt zu keinem esoterischen Schnickschnack Nein, der Onkel ist kleinkriminell und versucht mehr schlecht und recht eine Band auf die Beine zu stellen, und die Oma malt Blätter an und möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden und sterben. Eines Tages aber droht Evas Leben aus den Fugen zu geraten: Der Vater wird entlassen. Ein neuer Job ist zwar schnell gefunden, doch für den müsste die Familie nach Berlin umziehen. Und mit ihrer Krankheit in diesen Menschenmassen zu leben, kann sich Eva beim besten Willen nicht vorstellen. Sie beginnt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um möglichst schnell Geld aufzutreiben und den Umzug zu verhindern. Und da sie einen Kriminellen in der Familie hat und eine Bank im Dorf – welcher Gedanke drängt sich da auf? – Man merkt schnell, dass es Rogenhagen nicht primär darum geht, einen Film über eine am Tourette-Syndrom leidende junge Frau zu drehen. Die punktuellen Ausbrüche der Krankheit, die sich hier vor allem in körperlichen Zuckungen und wüsten Schimpftiraden zeigen, werden vor allem als komödiantisches Mittel eingesetzt. Dass Evas Familie und ihre Umwelt so entspannt mit der Krankheit umgehen, sorgt für amüsante Momente, da Evas Schimpfanfälle einfach ignoriert werden, so heftig sie für den Außenstehenden auch wirken. So bewegt sich Ein Tick anders mit guten Schauspielern und viel Situationskomik im Tonfall zielsicher auf sein Happy End zu. Freilich aber ist dieser auf dem Filmfest Schwerin preisgekrönte Film keine überdrehte Komödie – viele Facetten machen ihn zu einem Familienfilm im besten Wortsinne.
21. – 27.7.

Schenk mir dein Herz
Nicole Weegmann. D 2010. 90 Min. Mit Peter Lohmeyer, Paul Kuhn
Peter Lohmeyer spielt einen alternden Schlagerstar, der nach einem Herzinfarkt an Gedächtnisstörungen leidet. In einem Sanatorium findet er mit Hilfe eines alten – von Legende Paul Kuhn gespielten – Jazzmusikers wieder zu sich, seiner Musik und seiner wahren Liebe zurück. „Der Kinobesuch lohnt sich allein für das Duo Peter Lohmeyer und Paul Kuhn, die aufkeimende Männerfreundschaft ist spannend anzugucken. ‘Schenk mir dein Herz‘, untermalt mit Swing Jazz, geht zu Herzen.“ (BR-Online) „Dieser Film besticht durch seine Leichtigkeit, seine Präzision, seine grandiose Ausstattung und seine Liebe zu den Figuren. Traurig und wehmütig auf der einen Seite, humorvoll, ironisch auf der anderen, findet er eine ungewöhnlich feine Balance, die den Zuschauer charmant einfängt.“
28. – 31.7.

Psychoanalyse und Film – mit dem John-Rittmeister-Institut


So viele Jahre liebe ich dich
Philippe Claudel. F/D 2008. 115 Min. dt.Fs. Mit Kristin Scott Thomas
Die Annäherung zweier ungleicher Schwestern: Nachdem sie sich fünfzehn Jahre nicht gesehen haben, tritt Juliette zaghaft in das glückliche Familienleben ihrer jüngeren Schwester Lea. Juliette, so wird nach und nach deutlich, hat viele Jahre im Gefängnis verbracht und ist nun auf dem Weg zurück ins Leben, während die beiden Schwestern versuchen, eine Vergangenheit voller Geheimnisse zu überwinden, um wieder zu einem vertrauten Umgang zu finden. Ein Film über die Stärke der Frauen, über ihre Fähigkeit, sich neu zu erfinden, neu aufzuleben.
So 5. 6.

Lornas Schweigen
Jean-Pierre und Luc Dardenne. B 2008. 105 Min. dt.Fs. Mit Arta Dobroshi
Die Albanerin Lorna lebt im Zustand der Duldung in Lüttich. Um die belgische Staatsbürgerschaft zu erlangen, soll sie einen Junkie heiraten und dafür sorgen, dass der an einer Überdosis stirbt. Ein Plan, der natürlich nicht aufgeht… Die Gebrüder Dardenne entwickeln auch in diesem Film ein der trostlosesten Realität abgeschautes Szenario. Grandios in seinem Minimalismus, unbarmherzig in der Ausbreitung der Schicksale.
3.7, 18:30

mit CAU


A Scanner Darkly
Richard Linklater. USA 2006. Mit Winona Ryder, Keanu Reeves, Robert Downey Jr.
Fred arbeitet als verdeckter Ermittler in der Drogenszene von Kalifornien. Sein Kampf gilt der Modedroge „Substance D“, die zu einer gespaltenen Persönlichkeit führt. Um seine wahre Identität zu schützen, trägt Fred auf der Polizeidienststelle und bei offiziellen Anlässen einen so genannten „Jedermann-Anzug“. Dieses futuristische Ganzkörper-Kondom ändert permanent das Gesicht und die Gestalt des Trägers, so dass seine wahre Identität selbst vor seinen Kollegen geschützt bleibt. – An Philip K. Dicks Romanvorlage aus dem Jahre 1977 versuchten sich mit Charlie Kaufman und Terry Gilliam gleich mehrere Meister der intelligenten Science Fiction. Beide Ansätze verliefen im Sande, bis Richard Linklater 2006 einen neuen Anlauf unternahm.
Mo 6. 6.

Zum Cinarchea-Symposium „Archäologie im Film“


Ein Abend mit Filmen und Vorträgen
1994 erblickte das Internationale Archäologie-Film-Festival Cinarchea zum ersten Mal das Licht des Projektors (übrigens als erstes seiner Art in Deutschland), bis zum Jahr 2010 folgten ihm neun Veranstaltungen – alle unter der Leitung ihres Gründers Dr. Kurt Denzer; mit dessen 70. Geburtstag und seinem Entschluss, künftig etwas kürzer zu treten, sank das Festival in einen Schlummer, hierin den Untersuchungsgegenständen der Archäologie nicht unähnlich. Doch schon rührt sich etwas in der Versenkung, schon meldet sich die Cinarchea zurück – wenn auch nicht mit einem Filmfestival, so doch mit einer Fachtagung „Archäologie im Film“, die am 9. und 10. Juni in der Kunsthalle stattfindet und die kritische Auseinandersetzung mit der Darstellung archäologischer Fachbereiche im Medium Film und deren Vermarktung in der Öffentlichkeit sucht. Am 9. Juni ist die Fachtagung im KoKi zu Gast. Im Zentrum steht die Ausstellung „Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus“, die Februar bis Juni 2010 im Essener Zollverein stattfand. Zunächst zeigen wir in Uraufführung die Dokumentation über die Ausstellung Archäologie und Politik: Das Große Spiel (D 2011, 22 Min, von Thomas Tode und Rasmus Gerlach). Anschließend präsentiert Dr. Charlotte Trümpler, Leiterin der Ausstellung, historische Privatfilme aus dem Bestand der Kriminalautorin Agatha Christie, die ihren Mann 1937 bei Ausgrabungen begleitete und filmte. Ihre Arbeiten geben tiefe Einblicke in den Alltag in historischen Ausgrabungsfeldern in Syrien, 1937. – Thomas Tode, Rasmus Gerlach und Dr. Charlotte Trümpler sind zu Gast.
Do 9. 6.

Rosa Linse – mit HAKI e.V. und AStA der CAU – zum CSD Kiel


Milk
Gus Van Sant. USA 2008. 128 Min. dt. Fs. Mit Sean Penn, James Franco
Der New Yorker Harvey Milk zieht in den 1970er Jahren nach San Francisco, wo er und sein Partner Scott ein liberales Lebensumfeld finden. Doch als Harvey und seine Nachbarn auch hier brutaler Polizeiwillkür und Gewalt ausgesetzt werden, beschließt der charismatische Geschäftsmann, sich politisch zu engagieren. Nach mehreren Versuchen gelingt Harvey Milk schließlich der historische Sieg, er wird der erste offen schwule Mandatsträger in der Geschichte der amerikanischen Politik… Gus Van Sant nähert sich in Milk dem Politischen über das Private, ohne Harvey Milk zu idolisieren. Er fiktionalisiert ihn, ohne ihn zu mehr zu machen, als er ohnehin schon faktisch war. Neben der eindrücklichen Verkörperung Harvey Milks durch Sean Penn und der ebenfalls spektakulären darstellerischen Leistung Josh Brolins wirkt beim Zuschauer vor allem das Porträt der Zeit, ihrer Stimmungen und Politik nach.
Mi 1. 6.

mit der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft


Zeit der trunkenen Pferde
Bahman Ghobadi. Iran 2000. 79 Min. kurd./iran.OmU
In einem kurdischen Bergdorf im iranisch-irakischen Grenzgebirge kämpfen fünf Waisenkinder um ihr Überleben – der Vater starb durch eine Landmine, die Mutter im Kindbett. Das größte Problem für die Geschwister ist der älteste Bruder, der durch Zwergwuchs schwerbehindert ist. Um eine lebensrettende Operation zahlen zu können, macht sich der zwölfjährige Ayub, „Familienhaupt“ der Geschwister, mit dem kranken Bruder und Pferden mit Schmuggelgut auf eine gefährliche Tour durch das verschneite Grenzgebirge Richtung Irak. Mit schonungsloser Direktheit und ohne jede Larmoyanz schildert Ghobadi in intensiven Bildkompositionen die Karawane des Elends, die durch die schier endlose Weite der kargen, in eisiger Schönheit erstarrten Berglandschaft zieht. „Die Intensität der Erzählung macht atemlos. Trotz aller Herbheit hat der Film eine wunderbare Leichtigkeit, statt Melancholie strahlt er Kraft aus in einer wilden, kargen, wunderschönen kinematografischen Sprache.“ (SZ)
Mi 15. 6.

Wunschfilme


Pina
Wim Wenders. D 2011. 100 Min. mit d. Ensemble Tanztheater Wuppertal Pina Bausch
Regie-Legende trifft auf Tanz-Ikone. Ursprünglich wollte Wenders die Choreografin Pina Bausch und ihr Wuppertaler Ensemble bei einer Welt-Tournee begleiten. Doch Pina Bausch verstarb überraschend im Sommer 2009, wenige Tage vor Drehbeginn. Das Konzept musste geändert werden, es entstand „ein Film für Pina Bausch“, wie das Kinoplakat programmatisch betont. Alle Choreografien wurden noch gemeinsam mit Pina Bausch für den Film ausgewählt.
2. – 5.7.

Unter dir die Stadt
Christoph Hochhäusler. D/F 2010. 105 Min. Mit Robert Hunger-Buhler
Die unkonventionelle Svenja Steve landet mit dem neuen Job ihres Freundes Oliver im Frankfurter Bankenmilieu. Ihre Nikotinsucht führt zu einer zufälligen Begegnung mit Olivers Chef Roland Cordes. Der Banker des Jahres will eine Affäre und befördert den Mann deshalb auf einen lebensgefährlichen Posten in Indonesien. Ein aufreizendes Machtspiel mit Lebenslügen und Täuschungen beginnt, bei dem die junge Frau dem berufsmäßigen Manipulator keineswegs unterlegen ist. Unter dir die Stadt kann man als Kommentar zu Heuschrecken und Ackermännern lesen. Diese Menschen sagen beim Fotografiert-Werden nicht „cheese“, sondern „greed“. Und die Gier des Cordes ist maßlos.
11. – 13.7.

Four Lions
Christopher Morris. GB 2010. 97 Min. OmU. Mit Riz Ahmed, Kavyan Novak, Adeel Ahktar, Nigel Lindsay, Arsher Ali
Man kennt so was: Ein Haufen junger Männer hat hochtrabende Ideen und steckt sich hohe – zu hohe – Ziele. Bei der Verwirklichung erweisen sich ihre Ambitionen als größer als ihre Fähigkeiten, diese umzusetzen. So auch die Four Lions in dieser – nicht unumstrittenen – britischen Komödie, die wir im Original mit Untertiteln zeigen: Omar, sein Kumpel Waj, der zum Islam konvertierte Barry und der meist schweigsame Fessal bilden eine Terrorzelle im englischen Sheffield. Ihr Ziel ist es, Tod und Zerstörung über die Ungläubigen zu bringen. Allein die nötigen Mittel dazu fehlen. Das beginnt schon mit dem peinlichen Ausflug in ein pakistanisches Terroristen-Camp, wo Omar und Waj nach einem folgenschweren Zwischenfall ihre Sachen packen und unverrichteter Dinge wieder abreisen müssen. Zurück im verhassten England beginnen sie schließlich mit der Planung für ein heimtückisches Selbstmordattentat. Bei einem Wohltätigkeits-Marathon wollen sie zuschlagen und ihren Ankündigungen endlich Taten folgen lassen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, immerhin sind Omar und seine Terroristen-Buddies allesamt blutige Anfänger. Aus Angst davor, entdeckt zu werden, verschlucken sie ihre SIM-Karten oder verstellen beim Kauf der Bomben-Zutaten ihre Stimme. Und zum Test des explosiven Gemischs müssen auch schon einmal unschuldige Tiere dran glauben. – Four Lions schert sich keinen Augenblick um das, was man vielleicht nicht zeigen oder worüber man sich vielleicht nicht lustig machen dürfte. Das ist seine große Qualität, wobei die konsequente Auslassung jeder politischen Korrektheit allein noch keinen guten Film ergäbe. In den äußerst treffsicheren, mitunter mehr als schwarzen Pointen – so kommt es mehr als nur einmal zu todbringenden Missverständnissen und Verwechslungen – versteckt Regisseur Christopher Morris eine ziemlich clevere Dekonstruktion von religiösem Eifer und eines offenkundig gestörten Weltbildes. Obwohl hier auf den islamistischen Terror bezogen, lässt sich die Lesart des Films auf jedwede Art von Extremismus problemlos erweitern. In allen Fällen werden Menschen instrumentalisiert, indoktriniert und mit absurden Versprechungen manipuliert. Obgleich viele Szenen zu den ewigen Kabinettstückchen gezählt werden dürften, besteht Four Lions nicht allein aus lauten Gags. Erschreckend ist, wie selbstverständlich Omars Frau – eine Krankenschwester – den Plan ihres Mannes unterstützt. Sie versucht erst gar nicht, ihm die grausame und feige Tat auszureden. Es sind Beobachtungen wie diese, in die Morris schmerzhafte Wahrheiten über Verblendung und Fanatismus verpackt. Sein Film tritt selbstbewusst für einen säkularen Staat und eine freie Gesellschaft ein. Dass er dabei bis zum Ende sein hohes Tempo beibehält und überdies nie seinen Biss verliert, macht aus ihm eine uneingeschränkt sehenswerte Satire.
15. – 20.7.