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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

(Noch) Lebendige Totenkultur

„Utbüxen kann keeneen – Weglaufen kann keiner“ (Gisela Tuchtenhagen und Margot Neuber-Maric, D 2015)


Wenn man den plattdeutschen Dokumentarfilm „Utbüxen kann keeneen – Weglaufen kann keiner“ von Gisela Tuchtenhagen und Margot Neuber-Maric sieht, glaubt man nicht selten, in eine frühere Zeit zu schauen. Da gibt es noch die Totenbitterin (kannte ich gar nicht), eine Blaskapelle marschiert wie selbstverständlich durchs Dorf, und eine Hebamme ist zugleich auch Bestatterin. „Wat es nich allen noch gifft!“ (Was es nicht alles noch gibt!), ist man versucht, niederdeutsch radebrechend, verwundert auszurufen. Der Film ist, wenn man so will, ein ethnologisches Kulturzeugnis aus norddeutschen Landen. Voller Interesse und einfühlsam zuhörend lässt er seine Protagonisten in ihrem Niederdeutsch erzählen. Sie leben in Ostfriesland, Mecklenburg, Dithmarschen, auf Hallig Hooge und Hallig Langeneß. Ihr Platt hat jeweils eine andere „Färbung“ und ist ihnen so selbstverständlich wie der Alltag mit den Toten, der ihr Berufsleben bestimmt. Sie sind als Sargtischler, Totenfrau, Bestatter, Totengräber, Sargträger, Küster, Friedhofswart oder Totenbitterin, also Ausstatter und Betreuer der so genannten letzten Reise. Sie gehen ihrem Berufsleben voller Freude, ja Leidenschaft nach, so merkwürdig diese Worte in jenem Zusammenhang auch klingen mögen. Ihr Alltag bringt einen natürlichen Umgang mit den Toten mit sich, da sie oft schon von Jugend auf in diese Tätigkeiten hineingewachsen sind. Häufig haben ihre Eltern und Großeltern schon das gleiche gemacht.

Frieda Lau aus Nortmoor in Ostfrieland ist 76 Jahre alt und noch immer Dodenbitterin (Totenbitterin), überbringt die Todesnachricht und bittet zum Toten, d.h. lädt Freunde und Bekannte persönlich zu Sarglegung und Beerdigung ein, besucht jeden dafür. Sie organisiert auch Grabstelle und Orgelspiel, arbeitet so Hand in Hand mit der Bestatterin und immer in enger Absprache mit den Hinterbliebenen zusammen. Ein Brauch, der den persönlichen Bindungen auf dem Lande gerecht wird, den es wohl so nur noch hier auf dem Lande gibt und dessen Zeit abzulaufen scheint. Frieda ist ihr „Dienst“ Passion, von dem sie trotz ihres Alters nicht lassen kann. Sie hätte es sich auch gut vorstellen können, Bestatterin zu werden, aber in ihrer Jugend war die Emanzipation noch nicht so weit fortgeschritten (wohl besonders nicht auf dem Lande). „Ja, das hätte eine Frau nie gemacht, das wäre eine Katastrophe gewesen“, weiß sie während einer gemütlchen Teestunde den beiden Filmemacherinnen zu berichten.

Der Film nimmt sich unaufgeregt Zeit, den Erzählungen seiner Protagonisten zu folgen, immer aufmerksam aber auch diskret, wenn es angesagt ist. So bleibt die Kamera bei Bestattungen, wenn diese überhaupt ins Bild kommen, im geziemlichen Abstand, lässt die Trauernden in Ruhe und beschäftigt sich dafür eingehend mit den „Dienstleistern“ und ihrer Arbeit rund um die Beerdigungen.
Auch Dischermeister (Tischlermeister) und Bestatter Ernst Heinrich Tams aus Lunden in Dithmarschen ist die Liebe zu seinem Beruf anzumerken. Eingehend erklärt und zeigt er, wie er einen Sarg auspolstert und ausstattet, ihn praktisch beerdigungsfertig macht, und erzählt wie nebenbei seinen Werdegang zum Sargtischler und Bestatter. Sein Beruf war ihm, wie er erzählt, „in de Wiege gepackt“, zimmmerten doch Vater und Großvater schon Särge. Wie selbstverständlich ist der Tischler auf dem Lande auch für die Beerdigungen zuständig. Tams wurde schon als 16-Jähriger mit dem Metier vertraut gemacht. „Me mokt das eigentlich Spoß“, resümiert er zufrieden.


Sargtischler Tams bei der Arbeit (Foto: Utbüxen Filmproduktion GbR)
Neben Beerdigungsbräuchen bzw. Trauerkultur, z.B. Tams Schilderung von den tagdauernden Beerdigungen anno dazumal mit offenem Bestattungswagen, der von zwei Pferden vor dem Kutschbock gezogen wurde, die feierlich ganz bis zu den Hufen in schwarzen Stoff gehüllt waren und von denen ein altes Schwarzweißfoto einen fast düsteren Eindruck auf den heutigen Betrachter macht, oder der jährlichen Pflege des Friedhofs von der ganzen Dorfgemeinschaft im mecklenburgischen Woosmer, die dadurch die Grabpacht auf einem erstaunlich niedrigen Niveau halten kann, fließen auch immer wieder andere Szenen vom sozialen Leben auf dem Lande ein. Seien es Bilder vom äußerst lebendigen Landfrauentreffen, vom ländlichen Karneval oder von der Jagdleidenschaft des Sargtischlers Heinrich Warnk aus Woosmer und der nachbarschaftlichen Jagd, die stimmungsvoll mit einem blechbläsernen „Halali“ ihren Abschluss findet.

Eine besondere Geschichte hält der Film gegen Ende parat. Es ist das Wirken der Hebamme und Totenfrau Anni Both auf der Hallig Hooge (1957-1984): „Ick hab se up de Welt geholt und ick hab se betreut, wenn se von de Welt gingen. Un dat wär ok schen.“ Anni Both starb 2014. Tuchtenhagen und Neubert-Maric setzen ihr ein kleines filmisches Denkmal. Als Kontrapunkt zum eigentlichen Hauptthema erzählt der Film nun episodisch gerafft „Geburtsgeschichten“. Anni Both (geboren 1928 auf Hooge) wird Hebamme, weil die Gemeinde eine Hebamme braucht und ihr deshalb die Ausbildung in Kiel und die 18-monatige Abwesenheit von Haus und Familie finanziert und ermöglicht. Selbst bei Sturm und Flut, Anni Both ist allzeit bereit, sogar als Krankenschwester. Sie weiß immer einen Weg. Viele dankbare Mütter verbinden glückliche Erinnerungen mit ihr. Als Boths Nachbar bei „Tante“ Frieda stirbt, wird sie auch zur Totenfrau. Leicht befangen, weil sie Angst hat, etwas falsch zu machen, aber ohne Scheu vorm Toten, wäscht und kleidet sie den Leichnahm. Offen und wie selbstverständlich scheint sie auch diese Aufgabe übernommen und gemeistert zu haben.


Anni Both erzählt (Foto: Utbüxen Filmproduktion GbR)
Geruhsames Erzählen, Entschleunigung zeichet den Film aus. Eine Welt der älteren Generation wird festgehalten, bevor es sie vielleicht nicht mehr gibt. Sie scheint im Dörflichen noch ein Refugium zu haben. Das Lob auf das Ländliche wird unaufdringlich transportiert. Hier hat das Plattdeutsche noch eine Heimat, stiftet soziale Wärme. Die Welt scheint in Ordnung. Jeder kennt jeden und hält Verbindung zu seinem Gegenüber – bis in den Tod. (Helmut Schulzeck)

„Utbüxen kann keeneen – Weglaufen kann keiner", D 2015, 90 Min., HD 16:9, plattdeutsche Originalfassung, (hoch-) deutsche Untertitel. Buch, Regie, Produktion: Gisela Tuchtenhagen und Margot Neuber-Maric, Kamera: Gisela Tuchtenhagen, Ton, Schnitt: Margot Neubert-Maric. Mit: Frieda Lau, Ernst Heinrich Tams, Jürgen Ehlers, Heinrich Warnk, Anni Both (gest. 2014), Johann Petersen u.a. Gefördert aus Mitteln der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH, der nordmedia Film- und Mediengesellschaft Niedersachsen/Bremen mbH, der Kulturellen Filmförderung des Landes Mecklenburg-Vorpommern.