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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

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„Achterbahn“ (D 2008, Peter Dörfler)

Die Berliner (Boulevard-) Presse stand Kopf, als der Schausteller Norbert Witte, Betreiber des seit der Wende verwaisten Spree- oder auch Plänterparks in Treptow, Ende 2001 pleite ging und kurz darauf mitsamt der Fahrgeschäfte aus dem Vergnügungspark nach Peru auswanderte – oder auch entwich. Noch mehr rauschte der Blätterwald, als zwei Jahre später bekannt wurde, dass Witte in Peru in Drogengeschäfte verwickelt war, was ihm gegenwärtig einen „Zwangszwischenaufenthalt“ im offenen Vollzug der JVA Plötzensee eintrug, während sein Sohn Marcel, den er unfreiwillig in diesen Strudel hineinzog, seit nunmehr fünf Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen eine Verurteilung zu 20 Jahren Haft in Peru verbüßt. Eine Geschichte, die nach Kino schreit, die Peter Dörfler jedoch feinfühlig und vorurteilsfrei als Dokumentarfilm inszenierte.

„Er ist dazu geboren, Spektakuläres zu tun“, urteilt ein Freund zu Beginn der „Achterbahn“ über Witte. Er selbst konstatiert über die Aufs und Abs seines Schaustellerlebens: „Ich hab’ immer ganz viel oder gar nichts – ganz hoch rauf, ganz tief runter“, während seine Hände in Großaufnahme nervös mit einem Kaugummipapier spielen. Dörfler interessiert sich schon seit langem für ungewöhnliche Biografien. Hier erzählt er gleich die ganze der Familie Witte, die halb selbstverschuldet, halb Opfer der Umstände auf die schiefe Bahn geriet.



Verlassener Spreepark – Witte ist bereits in Peru (Fotos: Berlinale)
Norbert Witte ist der klassische Selfmade-Mann, ein Unternehmer, wie ihn sich die New Economy wünscht: ideenreich, auf seine Weise unverfroren, wagemutig. Ein Typus, der umso gefährdeter ist, über seine hoch fliegenden Pläne ins Wanken zu geraten. Mit dem Spreepark wollte sich der Schausteller einen Lebenstraum erfüllen: einen Vergnügungspark, der alles Vergleichbare in Deutschland in den Schatten stellen sollte. Eine Hybris, die in den Untergang führt. Die Stadt Berlin habe ihm immer nur Steine in den Weg gelegt, greint Witte, wenn er an die Zeit als Investor denkt, als er den einstigen Vergnügungspark Ost-Berlins in die Zukunft eines wiedervereinigten Deutschlands führen wollte. Als die Achterbahn ins Trudeln gerät, vertraut er allzu blauäugig den Verheißungen eines falschen Freundes, dass in Peru Vergnügungsparks ganz neue Möglichkeiten bieten. Keine Flucht vor dem Konkurs in Berlin also, eher der Versuch eines Neuanfangs jenseits des Atlantiks. Doch in Peru gibt der Zoll die importierten Fahrgeschäfte nur gegen exorbitante Schmiergelder frei. Monatelang steht der neue Park still, und Witte wird von den Kosten aufgefressen. Er sucht sein Heil in Drogengeschäften der peruanischen Kokain-Mafia, um mit deren Gewinn das Unternehmen zu sanieren. Doch das Komplott wird entdeckt, als schon sein Sohn darin verwickelt ist. Norbert Witte kann noch nach Deutschland entkommen, Sohn Marcel trifft die ganze Gewalt der peruanischen Willkürjustiz.



Schausteller zwischen Schuld und Sühne: Norbert Witte (r.)
Dörfler zeigt Witte zwischen Schuld und Sühne, (ver-) urteilt nicht, sondern zeigt Wittes Sicht auf die Verwicklung – ohne sich diese vorschnell zueigen zu machen. So soll ein Dokumentarfilm sein: den Fakten verpflichtet, und damit der Wahrheit, die manchmal von der Lüge nur schwer zu unterscheiden ist. Dörfler widmet sich auch Wittes Familie, namentlich seiner Ehefrau Pia und seiner Tochter Sabrina (auch Marcel kommt zu Wort, soweit das aus dem Gefängnis in Peru möglich ist). Die „Achterbahn“ führt mitten durch eine Familie, die zunächst an Norbert Wittes Seite mit nach Peru ging, dann aber erkennen musste, dass sie dort keine Chance hatte. Groll ist darob erkennbar, aber auch Mitleid mit Witte, der nach der Filmpremiere in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“, bereut: „Der Film hat mir nochmal gezeigt, was ich meiner Familie, vor allem meinem Sohn angetan habe.“

Indes hoffen Norbert, Pia und Sabrina Witte, dass der Film Öffentlichkeit schafft für die prekäre Situation des im peruanischen Gefängnis „verlorenen“ Sohns. Fünf Jahre Haft haben ihn gezeichnet, er wurde Opfer eines Giftattentats und ist gesundheitlich schwer angeschlagen. Vielleicht das schönste Kompliment für diesen Dokumentarfilm könnte sein, dass er darauf aufmerksam macht, also politisch eingreift in das von ihm gezeigte Geschehen – abseits von Schuld, Sühne und der Achterbahn, die das Leben zuweilen ist. (jm)
„Achterbahn“, D 2008, 98 Min., 35mm. Buch, Regie, Kamera: Peter Dörfler, Schnitt: Peter Dörfler, Vincent Plus