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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

13 kurze Filme zur Lage der Nation

„Deutschland ’09“ (Tom Tykwer, Fatih Akin, Dani Levy, Wolfgang Becker u.a., D 2009)

„Spiegel-online“ sprach in der Ankündigung des Omnibus-Filmprojektes „Deutschland ’09“ von der „Top-Riege“ der deutschen Regisseure und einer „Regieelite“. Solches Marktgeschrei ist natürlich Unsinn, wenn auch verlockend. Es lenkt eher von der Idee ab, einen filmischen Blick auf Deutschland aus den sehr unterschiedlichen Perspektiven von 13 namhaften Regisseuren zu werfen. „Der Film vereint ein gutes Dutzend individuelle, filmische Blicke auf das, was wir heute und jetzt als Heimat erleben – und wie wir uns in diesem Land verorten, verirren, verstricken“, so Mitinitiator Tom Tykwer. Die Idee zu dem Projekt entwickelte der Regisseur mit den NDR-Redakteuren Doris J. Heinze und Eric Fiedler in Anlehnung an den Polit-Film „Deutschland im Herbst“ von 1978. Damals widmeten sich 11 Regisseure des „Neuen Deutschen Films“, u. a. Fassbinder, Schlöndorff, Reitz und Kluge, den Folgen des RAF-Terrorismus unmittelbar nach der Staatskrise im „Deutschen Herbst 1977“. Ebenfalls als Episodenfilm angelegt, fokussiert „Deutschland im Herbst“ aber auf einen gesellschaftlichen Brennpunkt. Der Film wurde kontrovers diskutiert, seine Regisseure angegriffen.

31 Jahre später gehen wieder 13 Regisseure auf die Suche nach deutschen Befindlichkeiten, diesmal ohne thematische Vorgaben. Das ist der erste augenfällige Unterschied, der eine Menge über die Veränderungen in der Bundesrepublik sagt. Das große Thema gibt es nicht (mehr) – oder derer viele. Die Vielfalt reicht von deutscher „Leitkultur“ und vernachlässigten Kindern über Terrorismus-Paranoia, Überwachungsstaat und den Verlust von Geschichte durch ges(ch)ichtslose Architektur bis hin zur Globalisierungskritik. Die einzigen Vorgaben für die Regisseure waren die Schilderung ihrer persönlichen Wahrnehmung und eine zeitliche Begrenzung auf 12 Minuten.



Der „Patient Deutschland“ leidet unter „Sozialinfarkt“ ... (Fotos: Berlinale)
Angela Schanelec macht den Anfang mit kontemplativen Bildern eines Deutschlands am frühen Morgen, wenn erst die Putzfrauen in den Büroetagen unterwegs sind oder die Krankenschwestern auf Station. Dani Levy inszeniert sich selbst in einer absurd-anarchistischen Minikomödie und lässt sich vom Psychiater ein Medikament gegen die permanent schlechte Laune in Deutschland verschreiben. Levys Film behandelt im Vorbeigehen Terrorangst, veralbert Nazis, schickt die Kanzlerin auf die Couch und ist daher selbst ein probates Medikament gegen schlechte Laune. Dafür gab es bei der Premiere Szenenapplaus.

Fatih Akins Beitrag ist die schlichte Rekonstruktion eines Interviews mit dem ehemaligen Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz, der sich direkt gegen den ehemaligen Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier wendet. Akin gemahnt gegen das Vergessen dieses „deutschen Skandals“. Nicolette Krebitz inszeniert eine witzige, linksintellektuelle Frauenfantasie, in der sie eine junge Schriftstellerin die Geister von Susan Sonntag und Ulrike Meinhof heraufbeschwören lässt. Silke Enders lässt eine übereifrige TV-Journalistin über sozial benachteiligte Kinder recherchieren und an ihrem Routine-Fernsehbeitrag scheitern.

Dominik Graf philosophiert über den Verlust der geschichtlichen Identität durch den Abriss von „ehrlicher“ Nachkriegsarchitektur, an deren Stelle postmoderne Präsentationsarchitektur tritt. Hans Steinbichler liefert eine bissige Groteske, in der ein deutscher Unternehmer die gesamte Tages-Auflage der FAZ aufkauft, verbrennen lässt und anschließend die FAZ-Redaktion für die Abschaffung des Schriftsatzes „Fraktur Gotisch“ mit der Pistole richtet, weil ihm mit dem neuen Layout „ein Stück deutsche Seele verloren geht“. Isabelle Steves beobachtet in ihrer kurzen Doku Schüler bei der Diskussion des Begriffs „Loser“ und ihrem Umgang mit der Meinung anderer.

Hans Weingärtner nimmt den Fall des unschuldig überwachten und verhafteten Soziologiedozenten Andrej Holm zum Anlass, in einen kurzen Polit-Thriller vor dem Überwachungsstaat zu warnen. Eine milde Globalisierungskritik formuliert Tom Tykwer in seinem Beitrag, wenn er einen Handlungsreisenden um die halbe Welt schickt und die Orte nur noch am Akzent des Rezeptionisten zu unterscheiden sind.

Nachhaltig in Erinnerung bleibt Romuald Karmakars Kurzportrait eines iranischen Nachtclub- und Bordell-Betreibers, der aus dem Nähkästchen plaudert und in private, deutsche Abgründe blicken lässt. Wolfgang Becker sorgte mit einer schrillen Satire auf den „Patienten Deutschland mit Sozialinfarkt“ wieder für Lacher. Den Abschluss setzt eine experimentell-essayistische Fantasie von Christoph Hochhäusler, die sowohl subtil an eine unauslöschliche deutsche Vergangenheit gemahnt, als auch von einer „Sehnsucht nach Deutschland“ spricht.



...mit der richtigen Therapie besteht aber Anlass zur Hoffnung (Foto: Berlinale)
Repräsentativ für die Lage einer Nation kann selbst ein Kompilationsfilm nie sein. Viele Themen wurden ohnehin nicht oder nur am Rande behandelt: Das Ende der DDR, Arbeitslosigkeit, Rechtsradikalismus. Eindeutige ideologische Verortungen der Filmemacher sucht man vergebens, darin unterscheiden sich die Regisseure von „Deutschland ’09“ vielleicht am deutlichsten von den Machern von „Deutschland im Herbst“. Die großen Ideologien haben ausgedient, die Feindbilder sind nicht mehr so einfach auszumachen.

„Deutschland ’09“ überzeugt durch die vielfältigen, meist interessanten Ideen und adäquaten Formen. Nicht jede Episode wird aber sofort gefallen, das ist wichtig. Ob der ganze Film oder einzelne Episoden tatsächlich das Potential haben, heftige Kritik hervorzurufen oder die Zuschauer zu polarisieren, bleibt abzuwarten. Es wäre ihm zu wünschen. Doch auch das ist eine Veränderung und Erkenntnis der letzten Jahrzehnte. Politische Kritik insbesondere aus den Reihen der Künstler wird durch eine aufgesetzt liberale Haltung und schlichte Ignoranz am effektivsten ihrer Wirksamkeit beraubt. (dakro)

„Deutschland ’09“, D 2009, 140 Min., 35 mm. Regie: Fatih Akin, Wolfgang Becker, Sylke Enders, Dominik Graf, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmakar, Nicolette Krebitz, Dani Levy, Angela Schanelec, Hans Steinbichler, Isabelle Stever, Tom Tykwer und Hans Weingartner, Produktion: Herbstfilm, Berlin. Gefördert u.a. von der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein.