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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Mord ohne Motiv

„Distanz“ (Thomas Sieben, D 2008)

Warum werfen Menschen Holzblöcke von Autobahnbrücken auf fahrende Autos? Warum laufen Menschen Amok? – Wir sind es gewohnt, nach Ursachen zu fragen, gerade bei Gewalttaten, denn wir können uns nicht vorstellen, dass es einen Mord ohne Motiv gibt. Zumindest eine schwere Kindheit muss ein Mörder doch gehabt haben, wenn schon die üblichen Motive wie Affekt, Rache, Eifer- oder Habsucht ausfallen. Warum Daniel Bauer (Ken Duken), ein unauffälliger Gärtner im Botanischen Garten, mit von Autobahnbrücken fallenden Steinen Schicksal spielt, warum er mit einem Jagdgewehr im Park wahllos Leute erschießt, lässt sich nicht erklären, er hat kein Motiv. Genau das machte die Figur für Thomas Sieben in seinem Spielfilmdebüt „Distanz“ interessant – und genau damit verstört und polarisiert der Eröffnungsfilm in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ das Publikum wie kaum ein anderer.

„Menschen haben ein Verlangen nach Kausalität, aber die gibt es manchmal nicht“, sagt Thomas Sieben im erregten Nachgespräch zum Film, den „Perspektive“-Kurator Alfred Holighaus treffend als „Psychothriller ohne Psychologisierung“ bezeichnet. „Je weniger wir über die Figur wissen, desto stärker wirkt sie, wenn wir sie einfach handeln lassen, ohne Ursachenforschung zu betreiben“, so Produzent Norbert Kneißl. „Wir wollten einen Film ohne Wertung machen. Manche Menschen sind anders als wir, das wollten wir dokumentieren.“ Womit eigentlich schon viel zu viel erklärt wird, was der Film selbst erklärt, zumal er die Figur Daniels so anlegt, dass durchaus Ursachen, zumindest Anlässe für seine Mordtaten angedeutet werden.



Ken Duken als Mörder ohne Motiv zielt wahllos ... (Foto: Berlinale)
Das sagt schon der Titel: Daniel steht in einer seltsamen Distanz zur Welt und seinen Mitmenschen. Sein regungsloses Gesicht – beeindruckend in Szene gesetzt von Ken Duken – verrät diese ebenso wie viele Dialoge, die mit Absicht im Hintergrundrauschen verschwinden, als würden sie ihn gar nicht erreichen. Daniel ist unfähig zu Nähe und damit auch zu Emotionen. Er ist gewissensblind, lebt in einer Kapsel aus Gefühlskälte, die sogar seine Wohnung wiederspiegelt. Ausstatter Christian Sören Rudolph hat sie kongenial karg möbliert, kalt die Wände, steril die Beleuchtung. Eine Fickzelle mit Fernheizung, in der allerdings nicht gefickt wird – bis sich Daniels Kollegin Jana (Franziska Weisz) in ihn verliebt und sich darin selbst von seinen schroffen Abweisungen nicht beirren lässt. Sie ist das komplette Gegenteil von Daniel, ein Mensch, der krankhaft Nähe sucht, bis hin zur Distanzlosigkeit. Gegensätze, die dennoch gegenseitige Anziehung entwickeln, und für einige filmische Augenblicke scheint es so, als könnte die Liebe beider dunkle Seiten belichten. Doch Daniel kann nicht vom Morden lassen, bis er das Gewehr zunächst gegen Jana und dann sich selbst richtet ...

Auch auf der formalen Ebene erzählt der Film seine Hauptfigur minutiös. So gibt es eine Art Schlüsselszene, in der Daniel beobachtet, wie zwei Jäger einen Fuchs scheinbar grundlos erlegen und den Kadaver ungerührt liegen lassen. Eine gewisse Liebe zur Kreatur ist Daniel durchaus eigen, auch wenn sie sich vor allem Pflanzen gegenüber äußert (deswegen ist der Mörder hier der Gärtner). Das „einfach so“ ermordete Tier scheint seine letzten Gewissensbisse zu beseitigen, als er den Jägern die Waffe aus dem Auto stiehlt und nunmehr selbst „auf die Jagd“ geht – auf Menschenjagd. Fast philosophische Fragen tun sich auf: Was bedeutet Töten? Und was ist ein Leben wert, das imgrunde leblos vor sich hin gelebt wird? Fragen, die zudem höchst provokant sind, wie die zum Teil empörten Publikumsreaktionen zeigen.

Nicht zuletzt zeigen sie auch den Mut der Filmemacher, sie so frei von allen Vorbehalten und Vorurteilen im Film zu stellen – und ganz bewusst auf Antworten zu verzichten. Die müssen wir uns als Zuschauer selbst geben. Und müssen ähnlichen Mut beweisen, indem wir uns der Tatsache stellen, dass die „humane“ Schicht dünn ist, dass vermutlich in jedem von uns ganz dicht darunter das Dunkle, Unerforschliche, Grundlose lauert. (gls)
„Distanz“, D 2008, 84 Min., HDCAM. Buch, Regie: Thomas Sieben, Kamera: René Dame, Schnitt: Charlie Lézin, Produktion: Norbert Kneißl, Ken Duken, Ausstattung: Christian Sören Rudolph. Mit: Ken Duken, Franziska Weisz, Josef Heynert, Jan Uplegger