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15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Spiel mit dem Feuer, weiße Flecken im Gedächtnis - Das 39. Forum zeigt ein Programm voller Bezüge, Gegensätze und Spiegelungen

Das 39. Forum der Berlinale zeigt insgesamt 48 Filme aus 31 Produktionsländern. „Einmal um die Welt“ ist dabei aber kein Zählergebnis, sondern steht für die mannigfaltigen Bezüge zwischen den Filmen, die es zu entdecken gibt, ihre oft geteilten Anliegen und verwandten Vorstellungswelten, aber auch ihre Gegensätze und Spiegelungen. Elf Filme sind Debüts, 25 Filme werden als Weltpremieren, zwölf als internationale Premieren gezeigt.

Das deutsche Filmschaffen ist in diesem Programm mit fünf Arbeiten vertreten: dokumentarische Filme von Hans-Christian Schmid, Ulrike Ottinger, Harun Farocki und Thomas Heise und der neue Spielfilm von Sebastian Schipper – ein erfreulich vielfältiges Bild.

Immer wieder haben Goethes „Wahlverwandtschaften“ zu Verfilmungen inspiriert, aber so wie in Schippers Mitte Ende August hat man sie noch nicht gesehen: als spielfreudiges, sommerliches Erzählexperiment. Marie Bäumer, Milan Peschel, Anna Brüggemann, André Hennicke und ein einsames Haus auf dem Land spielen die Hauptrollen in dieser von historischem Ballast befreiten, zeitgenössischen Adaption, für die der Rockpoet Vic Chesnutt den Soundtrack komponierte.

In Die Wundersame Welt der Waschkraft interessiert sich Hans-Christian Schmid einmal mehr für die veränderten Koordinaten an der deutsch-polnischen Grenze. Sein Film folgt dem Weg der Schmutzwäsche von Berliner Hotelzimmern in eine polnische Großwäscherei und lässt die Menschen zu Wort kommen, durch deren Hände sie geht. Harun Farocki widmet sich in seinem neuen Film Zum Vergleich verschiedenen Techniken der Ziegelherstellung – vom handgeformten Lehmziegel bis zum Präzisionsbaustein als Hightech-Produkt. Während Farocki seine Beobachtungen in Burkina Faso, Indien und Frankreich macht, begibt sich Thomas Heise in seine eigenen Archive und damit in die Vergangenheit: In Material montiert er von ihm selbst dokumentierte, aber nie veröffentlichte Szenen der „Wende“ von 1989 zu einem Panorama, das die Erinnerung herausfordert, aber vor allem von den weißen Flecken handelt, die der Fortgang der Geschichte im Gedächtnis zurücklässt. Auf eine Reise begibt sich einmal mehr auch Ulrike Ottinger. Ihr neuester Film Die Koreanische Hochzeitstruhe geht dem Verhältnis von Tradition und Moderne in der Megacity Seoul nach.

Dokumentarfilme, gerade wo sie in den Grenzbereich zum Erzählkino vorstoßen, spielen im Forum eine wichtige Rolle. Im diesjährigen Programm setzen sich auffallend viele davon mit Prozessen öffentlicher Meinungsbildung auseinander und ergeben zusammen betrachtet das Zeitbild einer Welt, in der Wissen zur Ware und Meinungspolitik ein Spiel mit dem Feuer geworden ist.

Die unrühmliche Rolle des Staates als Anheizer von Konflikten bildet etwa den Hintergrund für den thailändischen Dokumentarfilm Citizen Juling. Nach dem brutalen Angriff eines fanatischen Mobs auf zwei Lehrerinnen im Frühjahr 2006 begaben sich die Filmemacherin Ing K und der Politiker und Menschenrechtsaktivist Kraisak Choonhavan auf eine Reise quer durch Thailand, ein von Gewalt und Vorurteilen gespaltenes Land. Citizen Juling ist der Versuch, Film zum Werkzeug eines Versöhnungsprozesses werden zu lassen. Ähnliches gilt auch für zwei Filme, die sich mit gewaltsamen Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent befassen. Eine Auswahl von vier kürzeren Dokumentationen des südafrikanischen Kollektiv-Projekts „Filmmakers against racism“ setzt sich mit den fremdenfeindlichen Gewaltexzessen auseinander, die das Land im Mai 2008 erschüttert haben. Christophe Gagnots Dokumentation D’Arusha a Arusha gilt dagegen den Langzeitfolgen des Genozids, dem 1994 in Ruanda fast eine Million Menschen zum Opfer fielen. Auf spannende und erhellende Weise kontrastiert sein Film die juristische Aufarbeitung durch die internationale Gerichtsbarkeit in Arusha mit persönlicher und zwischenmenschlicher Traumabewältigung.

Defamation von Yoav Shamir (im Forum 2008 mit Flipping Out) sollte ursprünglich ein Film über die zeitgenössischen, oft subtilen Spielarten des Anti-Semitismus werden. Shamirs Recherchen im Umfeld der New Yorker Anti-Defamation League (ADL) brachten ihn allerdings auch auf die Fährte eines ganz anderen Phänomens: den heiklen Umgang mit dem Nimbus des fortwährenden Opfers. Wie ein Spiegelbild dazu wirkt die Dokumentation Letters to the President des tschechischen Filmemachers Petr Lom: sein Interesse gilt den Briefen, die Millionen von Iranern, von staatlicher Propaganda ermuntert, ihrem Präsidenten schreiben. Allzu oft sind diese Briefe Indizien für die erfolgreiche Manipulation der öffentlichen Meinung durch einen Staat, der das Selbstbild gläubiger Muslime als von aller Welt Verfolgte zementiert.

Von den Langzeitfolgen und Verwerfungen einer Politik des Hasses erzählen zwei weitere Filme im Programm. Simone Bittons investigativer Dokumentarfilm Rachel rollt den Fall der amerikanischen Friedensaktivistin Rachel Corrie auf, die im Jahr 2003 bei dem Versuch zu Tode kam, die Zerstörung von Häusern im Gazastreifen zu verhindern. Der Libanese Simon El-Habre porträtiert in The One Man Village seinen Onkel Semaan, den einzigen Bewohner eines Bergdorfes, das der libanesische Bürgerkieg zu einem Geisterdorf gemacht hat. Bei aller Traurigkeit ist dieser wunderbar fotografierte Film auch eine Geschichte über das Glück eines Lebens in Frieden.

Zu den schönsten Entdeckungen im Forum 2009 gehören die Vielfalt und das Selbstbewusstsein des nachwachsenden Independent-Kinos. Nach einem Jahr globaler Krisen, wirtschaftlicher Instabilität und militärischer Konflikte begegnet man einem Filmjahrgang, der durch genaues Hinsehen, den Bezug auf selbst Erlebtes und ein erstaunliches Vertrauen in die eigene Filmsprache überrascht. Bei aller Individualität verbindet die jungen Filmemacher aber die Bereitschaft, ihr Medium als Herausforderung anzusehen, statt voreilig auf seine Universalität zu setzen – Independent-Kino im besten Sinne.

Im einmal mehr weltumspannenden Forum stehen Filme aus Korea, den USA, Rumänien und den Niederlanden exemplarisch für die Lust, Geschichten aus dem sozialen und emotionalen Nahbereich zu erzählen. Diese Filme erforschen vertrautes Terrain und entdecken im sicheren Boden feine Risse und Brüche, die den „kleinen Geschichten“ existenzielle Dringlichkeit geben. Viele der Filme sind Debüts, die meisten werden als Weltpremieren gezeigt, was ihre Aktualität noch unterstreicht.

Drei unabhängige US-Produktionen werden im Forum 2009 als Weltpremieren zu sehen sein. Andrew Bujalskis Beeswax ist in vielerlei Hinsicht symptomatisch für die Suche nach einer neuen Unabhängigkeit des Erzählens. In den Gesten, Redensarten und Requisiten des Alltags entdeckt Bujalski kleine Dramen von erstaunlicher kinematografischer Qualität. Seine Lakonie und Intimität gelten als Markenzeichen eines Trends: die Genre-Bezeichnung „mumblecore“ ist auf den umgangssprachlichen Duktus der Darsteller, meist Laien, gemünzt. Der Name lässt sich aber auch als Verweis darauf interpretieren, dass im Nuscheln des Alltags nicht selten die deutlichsten Lebenszeichen verborgen sind.

Wo sich Bujalski für die Untiefen der mündlichen Kommunikation interessiert, umgibt Matthew Hysell seine Protagonisten in Marin Blue mit einer rätselhaften Stille, der Ahnung von einer traumatischen Vergangenheit. In der ratlosen Leere der Vorstadtarchitektur von Los Angeles, Spekulationsruinen, suchen sie eine vorübergehende Behausung und warten auf die Rückkehr der Erinnerung. Auch The Exploding Girl von Bradley Rust Gray ist ein leise inszeniertes emotionales Drama. In den Sommerferien entdecken Ivy und Al, dass sie von „besten Freunden“ zu Liebenden werden könnten. Aber gerade ihre Vertrautheit steht auf einmal wie eine Barriere zwischen ihnen. Koproduziert wurde der Film von So Yong Kim, für deren eigene Regiearbeit Treeless Mountain Bradley Rust Gray im Gegenzug als Koproduzent verantwortlich zeichnet. Kim erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die im jüngsten Kindesalter mit einer Welt konfrontiert werden, die sie nicht verstehen und in der sie nicht willkommen sind.

Anders als Kims Regiedebüt In Between Days, welches das Forum vor drei Jahren zeigte, ist Treeless Mountain in Südkorea entstanden und zählt damit zu einer ganzen Reihe von Filmen im diesjährigen Programm, die von einem Land erzählen, dem nach einer Phase der Prosperität härtere Zeiten bevorstehen. Elegant wie My Dear Enemy von Lee Yoon-Ki mit der herausragenden Hauptdarstellerin Jeon Do-Yeon, existenziell und subtil wie die Debüts Members of the Funeral von Baek Seung-bin und, als Weltpremiere, The Day After von Lee Suk-Gyung, wortlos karg wie Land of Scarecrows von Roh Gyeong-Tae – das koreanische Kino, das Skeptiker bereits im Sog der Krise sahen, zieht in diesen Filmen alle Register und erweist sich als sensibler Seismograph für die Sehnsüchte, die im Dunkeln bleiben, wenn es allen scheinbar blendend geht.

In die Reihe erzählerisch dichter und stilistisch reifer Debütfilme gehört auch Esther Rots' Kan door huid heen (Can go through skin), das Psychogramm einer jungen Frau, die durch zwei persönliche Katastrophen aus der Bahn geworfen wird und verbissen versucht, auf eigene Faust mit ihrem Trauma fertig zu werden. Einen ganz anderen Akzent setzt das niederländische Kino mit Eugenie Jansens Calimucho. Eine Saison lang reiste die Regisseurin mit einem kleinen Wanderzirkus durch die Provinz und inszenierte eine fiktive Geschichte, in der sich alle mehr oder weniger selbst spielen und die dennoch einen Hauch von Märchen hat. Komplettiert wird das niederländische Trio durch das Regiedebüt Winterstilte von Sonja Wyss, die in ihrer Schweizer Heimat eine archaische Geschichte von sexuellem Erwachen und religiöser Mystik erzählt.

Wie in einer anderen Welt fühlt sich auch Delia, die in der rumänisch-niederländischen Koproduktion The Happiest Girl in the World ein Auto gewinnt und als Gegenleistung in einem Werbespot das „glücklichste Mädchen der Welt“ geben soll. Der Drehtag am Werbefilmset wird in Radu Judes treffsicherem Spielfilmdebüt zu einem Crashkurs im Erwachsenwerden – ein ebenso schonungsloser wie komischer Kommentar auf den Zustand im postkommunistischen Rumänien.


Programm des 39. Forums auf der Berlinale 2009

  • Aguas Verdes (Green Waters) von Mariano De Rosa, Argentina (WP)
  • D'Arusha a Arusha (From Arusha to Arusha) von Christophe Gargot, France/Canada/Ruanda (IP)
  • Beeswax von Andrew Bujalski, USA (WP)
  • Calimucho von Eugenie Jansen, The Netherlands (IP)
  • Cea mai fericită fată din lume (The Happiest Girl in the World) von Radu Jude, Romania, The Netherlands (WP)
  • Citizen Juling (Polamuang Juling) von Kraisak Choonhavan, Manit Sriwanichpoom, Ing K, Thailand (EP)
  • The Day After (Eoddeon gaien nal) von Lee Suk-Gyung, Republic of Korea (WP)
  • Deep in the Valley (Yanaka boshoku) von Funahashi Atsushi, Japan (WP)
  • Defamation (Hashmatsa) von Yoav Shamir, Israel, Austria (WP)
  • Doctor Ma's Country Clinic (Ma dai fu de zhen suo) von Cong Feng, People’s Republic of China (EP)
  • L'encerclement (Encirclement) von Richard Brouillette, Canada (IP)
  • The Exploding Girl von Bradley Rust Gray, USA (WP)
  • H:r Landshövding (Mr Governor) von MÃ¥ns MÃ¥nsson, Sweden (IP)
  • Hayat var (My Only Sunshine) von Reha Erdem, Turkey, Greece, Bulgaria (IP)
  • Help Gone Mad (Sumashedshaya pomosh) von Boris Khlebnikov, Russia (WP)
  • Kan door huid heen (Can Go Through Skin) von Esther Rots, The Netherlands (IP)
  • Die koreanische Hochzeitstruhe (The Korean Wedding Chest) von Ulrike Ottinger, Germany (WP)
  • Land of Scarecrows (Heosuabideuleui ddang) von Roh Gyeong-Tae, Republic of Korea/France (IP)
  • Letters to the President von Petr Lom, Canada, Iran (WP)
  • Love Exposure(Ai no mukidashi) von Sono Sion, Japan (IP)
  • Man tänker sitt (Burrowing) von Fredrik Wenzel, Henrik Hellström, Sweden (WP)
  • Marin Blue von Matthew Hysell, USA (WP)
  • Members of the Funeral (Jangryesigeui member) von Baek Seung-Bin, Republic of Korea (IP)
  • Mental (Seishin) von Soda Kazuhiro, Japan (EP)
  • Mitte Ende August (Sometime in August) vonSebastian Schipper, Germany (WP)
  • My Dear Enemy (Meotjin haru) von Lee Yoon-Ki, Republic of Korea (IP)
  • Naked of Defenses (Mubōbi) von Ichii Masahide, Japan (EP)
  • Ne me libérez pas, je m'en charge (My Greatest Escape) von Fabienne Godet, France (WP)
  • The One Man Village (Semaan Bilda'ia) von Simon El Habre, Lebanon (EP)
  • Rachel von Simone Bitton, France/Belgium (WP)
  • La sirena y el buzo (The Mermaid and the Diver) von Mercedes Moncada Rodríguez, Mexico, Nicaragua, Spain (WP)
  • Soundless Wind Chime (Wu Sheng Feng Ling) von Kit Hung, Hong Kong, Switzerland (WP)
  • Sweetgrass von Lucien Castaing-Taylor, USA (WP)
  • Treeless Mountain von So-Yong Kim, USA, Republic of Korea (EP)
  • Un chat un chat (Pardon my French) von Sophie Fillières, France (WP)
  • Winterstilte (Winter Silence) von Sonja Wyss, The Netherlands, Switzerland (IP)
  • Zum Vergleich (By Comparison) von Harun Farocki, Germany, Austria (WP)

Special Screenings

  • A History of Israeli Cinema von Raphaël Nadjari, France, Israel (WP)
  • Araya von Margot Benacerraf, Venezuela, France (WP of the restored print)
  • The Beast Stalker (Ching yan) von Dante Lam, Hong Kong (IP)
  • Affectionately Known as Alex von Danny Turken, South Africa (EP)
  • Angels on our Shoulders von Andy Spitz, South Africa (EP)
  • Baraka (The Blessing) von Omelga Mthiyane, Riaan Hendriks, Marianne Gysae, South Africa (EP)
  • The Burning Man von Adze Ugah, South Africa (EP)
  • Generasi biru (The Blue Generation) von Garin Nugroho, John De Rantau, Dosy Omar, Indonesia (WP)
  • Langsamer Sommer (Slow Summer) von John Cook, Austria
  • Material von Thomas Heise, Germany (WP)
  • Schwitzkasten (Clinch) von John Cook, Austria
  • Soul Power von Jeffrey Levy-Hinte, USA (EP)
  • When it was Blue von Jennifer Reeves, USA, Iceland (EP)
  • Die wundersame Welt der Waschkraft (The Wondrous World of Laundry) von Hans-Christian Schmid, Germany (WP)

(nach Pressemitteilungen der Berlinale)