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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Beobachtungen aus dem Mittendrin

„Langsamer Sommer“ (John Cook, A 1974-76)

„Das ist kein Film über meine grotesken Liebesbeziehungen. Das ist ein Film über uns“, sagt John zu seinem Freund Helmut, bevor sie sich gemeinsam den Super-8-Film anschauen, den sie im vorvergangenen Sommer gedreht haben. John meint eine kleine Gruppe Wiener Bohemien, seine Freunde, die Protagonisten und zugleich technischer Stab in seinem Filmprojekt sind. Anfang der 70er zeigte Wien noch den vollen architektonischen Charme der vergangenen Jahrhunderte und insbesondere der Belle Epoque. Die städtebauliche Erneuerung, und damit das Ende des alten Wien, kündigt sich an. Wien und seine Helden wirken ein wenig verschlafen, phlegmatisch, in John Cooks quasi-dokumentarischem Szenen-Reigen „Langsamer Sommer“.



Mitten im „Langsamen Sommer“: Hilde Pilz und John Cook (Foto: Berlinale)
Viel passiert denn auch nicht in diesem Film, der sich eher die Zeit nimmt, seine Helden bei unspektakulärem, alltäglichem Tun zu beobachten. Helmut arbeitet im Foto-Fachgeschäft und muss sich mit lästigen Kunden herumschlagen. Michael versucht sich an einem Buch mit Aphorismen, während seine hübsche Frau Hilde daran verzweifelt, dass sie es an seiner Seite zu nichts bringen wird. John leidet nachhaltig unter der letzten Trennung. Er sitzt deshalb auch schon mal vor der alten Wohnung auf einer Parkbank, um zu beobachten, was sich drinnen bei seiner Ex und dem Neuen abspielt. Helmut hilft John moralisch auf die Beine, stellt ihm das Fotomodel Eva vor. Eine kurze Affäre zwischen Fotograf und Model beginnt. Kurz vor Ende des Sommers gehen die Freunde zusammen auf einen Landausflug, auf dem erste Risse in der Gruppe deutlich werden. Die Beziehungen zwischen den sympathischen Nichtsnutzen sind an einem toten Punkt angekommen, genau wie ihre Lebensläufe. Nicht nur ein langsamer Sommer geht zu Ende.

Der kanadische Werbe- und Modefotograf John Cook (1935-2001) arbeitete in den 60ern in Paris und lebte seit 1968 in seiner neuen Wahlheimat Wien. Nach seinem ersten Film „Ich schaff’s einfach nimmer“ (A 1972-73), eine Dokumentation über das ungleiche Paar der Hausmeisterin Gisi und ihren halb so alten Freund, den Boxer Petrus, richtete Cook 1974 seine Super-8-Kamera wieder auf seine unmittelbare Umgebung. „Langsamer Sommer“ atmet den Geist der Nouvelle Vague und des Cinema Verité. Cook mag diese Einflüsse aus seiner Pariser Zeit mit nach Wien gebracht haben. Ein filmischer Zeitgenosse von „Langsamer Sommer“ ist das post-Nouvelle-Vague-Mammutwerk „La Maman et la Putain“ (Jean Eustache, F 1973), die Geschichte einer Dreiecksbeziehung im zeitgenössischen Paris. Beide Filme haben den dokumentarischen, schwarz/weißen Look und die Fokussierung auf nicht-familiären Beziehungen gemeinsam. Verwurzelt zwar in einer europäischen Filmtradition, ist „Langsamer Sommer“ gleichzeitig ohne Vorbild und bleibt eine Ausnahmeerscheinung. Das mag zum einen an der Biographie Cooks zum anderen am unorthodoxen Entstehungsprozess des Films liegen. Geld war keines vorhanden, es wurde von Freunden geborgt oder über einen Kredit aufgenommen. Gefilmt wurde deshalb auf günstigem, schwarz-weißem Super-8-Material, ohne festes Skript, ohne künstliches Licht, ohne Soundtrack. So entstanden ganz zwanglos wahrhaftige Momente. Die scheinbar lose aneinander gereihten Episoden durchzieht eine feine Melancholie. Keine Beziehung, zumindest zum weiblichen Geschlecht, scheint von Dauer. Das Ende ist immer abzusehen. Doch Helmut und John raufen sich wieder zusammen und bringen den Film zu einem Ende. Ihr retrospektiver Kommentar ist gleichzeitig dramaturgischer Kniff und Verweis auf die doppelte Selbstreflexion der Filmemacher um Cook. „Langsamer Sommer“ ist aber insbesondere deshalb mit Vergnügen anzuschauen, weil man dem humanistischen, liebevollen Blick des John Cook auf die Menschen vertrauen kann. „Langsamer Sommer“ ist auch ein Hohelied auf die Freundschaft. (dakro)

„ Langsamer Sommer“ ist zusammen mit „Schwitzkasten“ (1978-79) und „Ich schaff’s einfach nimmer“ sowie Bonusmaterial in einer Edition des Wiener Filmmuseums (www.filmmuseum.at) erschienen.
„Langsamer Sommer“, A 1974-76, 83 Min., Super-8-Blow-Up auf 35 mm. Buch: John Cook, Michael Pilz, Regie: John Cook, Kamera: John Cook, Helmut Boselmann, Michael Pilz, Ton: John Cook, Helmut Boselmann, Michael Pilz, Susanne Schett, Schnitt: John Cook, Susanne Schett, Produzent: Michael Pilz, Darsteller: John Cook, Helmut Boselmann, Michael Pilz, Hilde Pilz u.a.