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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Walk on the Wild Side

„Little Joe“ (Nicole Haeusser, USA 2009)

„Little Joe“ Dallesandros Leben ist ein Lehrstück über die Sonnen- und Schattenseiten des Ruhmes. Underground-Sexidol und Warhol-Superstar Joe Dallesandro hat in seinem Leben beide Seiten intensiv erlebt. Ende der 60er machten ihn von Andy Warhol gedrehte oder produzierte Filme zum Idol der schwulen Subkultur und zum Posterboy der „Factory“. Es ging ihm der Ruf voraus, dass sich, egal ob Mann oder Frau, jeder in seinen Anblick verliebt. Finanziell und künstlerisch ausgenutzt, mit seinem Mentor Paul Morrisey überworfen, in der Alkoholsucht gefangen, hat Dallesandro sich erst in den 80ern wieder fangen können. Es waren die oft zitierten „15 Minuten“ Ruhm, tatsächlich einige Jahre im Dunstkreis der Warholschen Factory, die das Leben von Joe Dallesandro bestimmen sollten.



Posterboy der Warholschen Factory: Joe Dallesandro (Foto: Berlinale)
Aufgewachsen in einem labilen Elternhaus, bei Pflegeeltern und der Großmutter, verdiente „Little Joe“ sein erstes Geld als Nacktmodell und als Stricher. 1967 stieß er auf Andy Warhol und Paul Morrisey, die mitten im Dreh ihres ersten Films „****“ waren und den 18-Jährigen sofort vereinnahmten. Die von Warhol produzierten und Paul Morrissey inszenierten Filme „Flesh“ (1968), „Trash“ (1970) und „Heat“ (1972) machten Dallesandro in der Subkultur berühmt und in der internationalen Art Scene bekannt. Sein strammes Gemächt in hautenger Jeans, fotografiert von Andy Warhol, ziert das berühmte Reißverschluss-Cover der Rolling-Stones-LP „Sticky Fingers“ (1971). Lou Reed verewigte „Little Joe“ in „Walk on the Wild Side“, seiner Ode an das flamboyante New York der frühen 70er. Nach den auch im Mainstream-Kino mäßig erfolgreichen Horror-meets-Avantgarde-Streifen „Flesh for Frankenstein“ (Paul Morrissey, USA 1973) und „Blood for Dracula“ (Paul Morrissey, USA 1974) trennen sich die Wege von Dallesandro und seinem Mentor Morrissey. Dallessandro bleibt am Drehort von „Dracula“, Italien, und startet dort eine Karriere als Darsteller in den italienischen Gangsterfilmen der 70er. Highlights in dieser Zeit sind Rollen in Filmen von Serge Gainsbourg („Je t’aime – moi non plus“, F 1975), Louis Malle („Black Moon“, F 1975) und Jaques Rivette („Merry-Go-Round“, F 1981). Dallesandro schaut jedoch zu tief ins Glas, Beziehungen scheitern, eine Karriere im Mainstream-Kino der USA bleibt ihm versagt. Mit Nebenrollen in Film und Fernsehen hält er sich seitdem über Wasser.
In den zwei, drei retrospektiven Interviews, die sich als roter Faden durch den Film ziehen, schlägt der Kette rauchende Dallesandro aber keinen verbitterten Ton an. Oft reiht er Anekdoten aneinander und erzählt von der Verwunderung des jungen Nacktmodells, das sich bei jeder passenden Gelegenheit vorzugsweise nackt vor der Kamera zeigen soll. Paul Morrissey sah er als Vaterfigur und war umso enttäuschter, als der ihm angemessene Gagen vorenthielt.

Nicole Haeusser liefert mit „Little Joe“ eine linear erzählte Dokumentation, die von den launigen Reminiszenzen ihres Protagonisten und der Flut an Fotos und Filmausschnitten lebt. Fehlendes Bildmaterial zur Jugendzeit von Dallesandro macht Haeusser durch eine kurze und witzige Stop-Motion-Animation wett. Interessant sind die Einblicke in das Filmschaffen von Warhol und Morrissey in den Jahren der Factory. Das Thema der Künstlermuse, die der Vergessenheit anheim gegeben wird, sobald sich der Künstler von ihr abwendet, ist das Grundmotiv von „Little Joe“. Das letzte Viertel des Films allerdings scheint eher eine Aufzählung von Filmauftritten Dallesandros der Vollständigkeit halber zu sein. Das lenkt leider ein wenig vom Fokus auf die Geschichte eines Überlebens im Kunst- und Filmbetrieb ab. Joe Dallesandro und seine Tochter haben den Film selbst produziert. Nachdem so viele von seinem Aussehen und seinem Ruf profitiert haben, kann man „Little Joe“ aber nicht allzu übel nehmen, seine Geschichte vollständig und aus seiner Sicht erzählen zu wollen. (dakro)
„Little Joe“, USA 2009, 87 Min., HDCAM. Buch und Regie: Nicole Haeusser, Kamera: Christos Moisides, Schnitt: Karen Smalley, Nicole Haeusser, Songs: Joe Frusciante, Lou Reed, Produktion: Vedra Mahegian Dallesandro, Joe Dallesandro