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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Romeo und Julia in Afghanistan

„Mein Herz sieht die Welt schwarz – Eine Liebe in Kabul“ (D 2009, Helga Reidemeister)

„Seit ich geboren wurde, war hier immer nur Krieg“, erzählt Hossein aus dem Off, während Dokumentarfilmregisseurin Helga Reidemeister Kameramann Lars Barthel auf die Ruinen der von diesem unendlichen Krieg gezeichneten afghanischen Dörfer halten lässt – aus dem üblichen Fenster des Bus’, der über die Wüstenpisten holpert. Ein Hahnenkampf in blutigen „close ups“ verdeutlicht das „Set“ ebenso allzu vielsagend. Doch mitten in diesem Krieg auf Dauer blüht eine dauerhafte Liebe: Seit ihren Kindertagen kennen sich Hossein und Shaima, als sie aufwuchsen, wurde aus dieser „Sandkastenfreundschaft“ Liebe, die bis heute anhält – gegen alle Widerstände.



Unverbrüchliche Liebe gegen alle Widerstände: Hossein und Shaima (Foto: Berlinale)
Eine Geschichte, die eigentlich für einen Spielfilm taugen würde, und vielleicht deshalb im dokumentarischen Format trotz aller Nähe von Kamera und Autorin zu den „talking heads“ ihrer Protagonisten blass bleibt. Gleich nach den „establishing shots“ aus einer verheerten Welt humpelt uns Hossein auf Krücken entgegen. Perspektivlos und „ohne Chance auf ehrliche Arbeit“ hat er sich vor Jahren in den Sold der Taliban begeben – nicht aus Überzeugung, sondern aus purer Not –, wurde schwer verletzt und ist seither querschnittgelähmt. Nicht weniger schwer ist Shaimas Schicksal. Sie wurde zwangsverheiratet, gebar eine Tochter, ließ aber nie von der Liebe zu Hossein. Jetzt pflegt sie den Versehrten liebevoll und kümmert sich dabei wenig um die Anfeindungen aus Hosseins wie ihrer eigenen Familie. Hosseins Mutter wünscht sich eine „jungfräuliche“ Frau für ihren Sohn und will selbst auf die Suche nach einer solchen gehen. Shaima kommt als Schwiegertochter nicht in Frage, denn sie ist ja „schon berührt“. Shaimas Eltern und Brüder haben sie imgrunde schon seit der „Scheidung“ von ihrem Ehemann verstoßen. Falls sie nochmal heiraten sollte – im Codex der Stammesgesellschaft der Pashtunen eh ein Unding –, muss es „ein starker Mann sein, kein Krüppel“, der die Familie nicht ernähren kann.

Hossein und Shaima lassen sich davon nicht beeindrucken. „Wir haben jetzt Demokratie“, sagt Hossein, „da kann eine Frau selbst wählen, mit wem sie zusammen sein will.“ Das wirkt freilich ebenso hilflos, aufgesetzt und im Bewusstsein, es in eine westliche Kamera zu sprechen, wie Shaimas Bekenntnis: „Ich bin eine junge Frau, ich will mein eigenes Leben leben!“ Aussagen, die in den strenggläubig muslimisch geprägten Familien der beiden so befremden müssen, wie einst Romeo und Julia ihre verfeindeten Familien. Dass sie Derartiges überhaupt sagen können, dürfte im wesentlichen der Kamera geschuldet sein, vor der auch Missgunst und Hass der ebenfalls interviewten Familienmitglieder etwas moderater wirken.

Und genau das ist das Problem: Die dokumentarische Kamera beeinflusst die Situation, kann nicht einfach nur beobachten. Was hinter oder nach ihrer Gegenwart passiert, können wir nur erahnen. Und befürchten. Hossein und Shaima lassen durchblicken, dass sie durchaus Angst vor Racheakten haben müssen. Zudem befinden sie sich in einer gefährlichen Situation, weil die jeweilige Familie in der desolaten äußeren Lage des fortdauernden Krieges den einzigen Schutz bietet. Das Festhalten an der gemeinsamen Liebe, so stark sie sein mag, könnte für beide tödlich enden.

Eine höchst prekäre Situation nicht nur für die Protagonisten, auch für deren Dokumentare. Sie müssen sich einmischen, um zu zeigen, aber solche Einmischung könnte die Gefahr zuspitzen. Ein Damoklesschwert, das über dem ganzen Film hängt. Auch wenn das Ende offen bleibt, ahnen wir nichts Gutes für das Paar inmitten der Wirren von Krieg, Unmenschlichkeit und (religiöser) Traditionen, die einen derartigen Lebens- und Liebesentwurf unmöglich machen. Und umso mehr ziehen wir den Hut vor dem Mut der Verzweiflung von Romeo und Julia in Afghanistan. (gls)
„Mein Herz sieht die Welt schwarz – Eine Liebe in Kabul“, D 2009, 87 Min., Digi Beta. Buch, Regie: Helga Reidemeister, Kamera: Lars Barthel, Schnitt: Marzia Mete