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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Die sanfte Therapie des Skurrilen

„Nord – North“ (Rune Denstad Langlo, Norwegen 2008)

Jomar, Anfang 30, untersetzt und vollbärtig, ist Wärter einer Skilift-Anlage. Die Wärme in seinem hauptsächlich von Kälte geprägten Leben liefern ihm Flachmänner mit Hochprozentigem – und bis vor kurzem auch die Liebe zu seiner Ex-Freundin. Doch diese ist mit einem Anderen durchgebrannt, so dass Jomar nichts übrig zu bleiben scheint, als sich der durch den Liebeskummer ausgelösten Krise hinzugeben. Doch inzwischen hat die Dame auch dem Neuen den Laufpass gegeben und ist mit ihrem kleinen Sohn in den Norden gezogen. Jomar erfährt das Unglaubliche: dass er selbst der Vater des Kindes ist. Da gibt’s nur eines: Skilift Skilift sein lassen, Schneemobil starten und ab durchs verschneite Fjäll nordwärts, nach Lappland!

Wer meint, dass man es auf so einer Reise durch die endlosen Schneeweiten Norwegens nur mit Kälte, Unwetter und wilden Tieren aufnehmen müsse, wird von „Nord – North“ lernen, dass die wahren Abenteuer statt dessen in menschlichen Begegnungen liegen. Zugegeben – es geht auch die eine oder andere Wandererhütte in einem Feuerball auf, weil Jomar, dessen Proviant so gut wie ausschließlich aus Schnaps besteht, seine Lebenslage offensichtlich keineswegs unter Kontrolle hat. Aber Jomar findet immer wieder Aufnahme bei bemerkenswerten Gastgebern, sei es der schrulligen Oma und ihrer lebenshungrigen Enkelin, dem homophoben Ulrik, der die größten Schneepflüge virtuos bedient und zu tiefer Männerfreundschaft fähig ist, oder dem über 80-jährigen Samen Ailo, der zum Leidwesen seiner Tochter in einer samischen Kota lebt und Jomar nachhaltig mit Weisheiten über Leben und Tod vertraut macht.



Jomar (Anders Baasmo Christensen) auf der Reise in den Winter des eigenen Ichs (Foto: Ingun A. Mahlum/Motlys)
Regisseur Rune Denstad Langlo hat sein Herz erwärmendes „antidepressives Off-Road-Movie“ gemeinsam mit dem Autor des Drehbuchs, Erlend Loe, erdacht. Den Anfang habe eine eigene Phase der Depression vor vier Jahren gemacht, so der Regisseur: „Nord – North“ sei ein wenig seine eigene Geschichte. Die überraschende Vaterschaft und hoffnungsvoll-ungläubige Suche nach dem Sohn sei jedoch als Idee des Hauptdarstellers Anders Baasmo Christensen ins Drehbuch eingeflossen. Baasmo Christensen wiederum findet, er sei bestens auf die Filmaufnahmen als Reisender durch eine seelische Tiefenlage vorbereitet gewesen, da er direkt zuvor als Hamlet auf der Bühne gestanden habe – eine bessere Voraussetzung sei ja wohl kaum denkbar! Die meisten Rollen in „Nord – North“ sind jedoch mit Laiendarstellern besetzt – „Familie und Freunde“ sind laut Regisseur Denstad Langlo zahlreich vertreten. Anders jedoch der Darsteller des samischen Greises Ailo: er spielte in den 60er Jahren immerhin schon einmal Theater! Für Regisseur Denstad Langlo ist „Nord – North“ insofern eine Premiere, als er vorher ausschließlich Dokumentarfilme gedreht hat.

Der diesjährige Eröffnungsfilm der Sektion Panorama feierte am 6. Februar seine Weltpremiere in Berlin und lief gleich danach in Norwegen an. Es drängt sich auf, „Nord – North“ in der Tradition norwegischer Werke wie „Elling“ (Peter Naess 2001), „Kitchen Stories“ (Bent Hamer, 2003) und „O’Horten“ (Bent Hamer, 2007) zu sehen. Sie alle haben es zu großen Publikumserfolgen weit über Norwegen hinaus und zu bedeutenden Nominierungen (Oscar, Cannes) gebracht. „Nord – North“ erzählt seine Geschichte liebenswert melancholisch mit goldrichtig besetzten Darstellern, grandios gefilmten Landschaftspanoramen, die zu Seelenlandschaften werden, und immer wieder neuen herrlich schräg-skurrilen Einfällen. Bei der Berlinale 2009 wurde dies mit dem Preis der internationalen Filmkritiker- und Filmjournalistenvereinigung FIPRESCI und dem Europa Cinema Label honoriert. (gls)
„Nord – North“, NOR 2008, 78 Min., 35mm Cinemascope. Regie: Rune Denstad Langlo, Buch: Erlend Loe, Kamera: Philip Øgaard, Schnitt: Zaklina Stojcevska. Mit: Anders Baasmo Christiansen, Kyrre Hellum, Marte Aunemo, Mads Sjøgård Pettersen, Lars Olsen u.a.