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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Schiefe leere Räume

„Sense of Architecture“ (Ö/D 2005-2009, Heinz Emigholz)

Nach 168 Minuten Bauten wäre man vermutlich selbst zur Mauer erstarrt, oder zur hölzernen Salzsäule eines Glockenturms in den Seetaler Alpen, mit dem Heinz Emigholz’ Mammutprojekt anhebt, zeitgenössische Architektur in Österreich als lexikalische Raumerfahrung auf der zweidimensionalen Leinwand abzubilden. So müssen dem Rezensenten 60 der 168 Minuten reichen – durchaus zureichend, um zu erkennen, was Emigholz’ Kamera in den verlassenen Räumen der Architektur umtreibt.

„Raum habe ich schon immer als heikel wahrgenommen. Den inneren Raum des eigenen Körpers und den äußeren, in dem ich mich bewegen kann oder muss. Ob es nun künstliche oder natürliche Räume sind, spielt dabei erst einmal keine Rolle, die ganze Relation steht bei mir auf der Kippe. Es hat fast 40 Jahre gedauert, bis ich darin so etwas wie eine Balance gefunden hatte“, sagte Emigholz im Gespräch mit Marc Ries, das im Katalog zu diesem „Forum expanded“-Beitrag ausschnittsweise wiedergegeben ist.

Emigholz ist bei diesem Abbildungsversuch eines äußeren Raumes in den inneren des Filmbetrachters in jeder Hinsicht radikal. Nicht nur, dass er 42 der 57 Kurzfilmportraits erstaunlicher Bauten, die er 2005 und 2006 für die in Graz konzipierte internationale Wanderausstellung „Sense of Architecture“ herstellte, also einen Großteil, in einem Film versammelt, der eine ganze Menge Sitzfleisch in einem weit weniger lichten und illustren Raum, nämlich dem Kinosaal, erfordert. Wie er das macht, ist zudem sehr eigensinnig.

Moderne Architektur, namentlich jene, die sich als Gestaltung von „Lebens“-Räumen versteht, stellt den Raum slbst in Frage. Fast überall in den von Emigholz porträtierten Projekten werden Wände in Glasflächen aufgelöst. Wo noch Wand ist, ist sie gerne aus Holz, weil das natürlicher als Beton anmutet. In solcher Massierung vom Einfamilienhaus über den anthroposophisch angehauchten Kindergarten bis zur Apotheke, die mit ihren gläsernen und beleuchteten Schränken wie ein artifizielles Arzneimuseum, kaum wie ein lebendig funktionaler Raum anmutet, wirkt die moderne Architektur fast schon fantasielos, weil sie so angestrengt die Fantasie bemüht. Emigholz’ Kamerablick darauf ist durchaus kritisch. Zum einen, weil er thematisiert, wie unfilmisch es ist, mit einer Filmkamera eigentlich Still-Fotos zu machen, in denen weder Menschen (bis auf ein paar dahin verirrte) noch Bewegung (bis auf das – eigentlich nur vom Live-Ton lebendigisierte – Rauschen der Baumblätter rund um die Bauten) sind. Zum anderen parodiert er geradezu den Hang moderner Architektur, Waage- und Senkrechten zu meiden. Schiefe Linien durchziehen Emigholz’ Haus-Porträts. Wo die nicht schon von Architektur wegen schief sind, stellt Emigholz seine Kamera oder die Perspektive schief und zitiert damit nicht zuletzt expressionistische Filmbauten.



Schiefe Linien als Aufstand der Fläche gegen den Raum (Foto: Berlinale)
Ebenso „kritisch“ sieht Emigholz die Auflösung der Grenzen zwischen den inneren und äußeren Räumen, als wollte er sagen, dass eine nicht nur gläserne Wintergartenwand zwischen Innen und Außen durchaus erkenntnisfördernder wäre als die Architektur des Postmodernismus behauptet. Nur scheinbar schafft nämlich die Öffnung des häuslichen Raums zur Natur „da draußen“ eine engere Verbindung mit ihr. In den von Emigholz gefilmten Räumen fehlt meist die „Heimlichkeit“, die Heimat, die Menschen brauchen, um sich der ohnehin fortschreitenden Entgrenzungen zu erwehren. Mit dem – filmischen – Mittel des Atmo-Sounds versuchen Emigholz und sein Sounddesigner Till Beckmann dieses Innen versus Außen wiederzugewinnen, das die Glasfassaden nivellieren.

Besonders verstörend wirkt die Menschenleere dieser Architekturen. Interieurs wie eine auf dem Sessel liegende Gitarre oder „unordentliche“ Bücherwände verraten Belebung. Nur sind die Innewohnenden gerade nicht zu Hause, weil womöglich geschäftig tätig außerhalb ihrer Häuser – und damit auch außerhalb ihrer Iche? Das „Primat der Produktion neuer Bilder durch einen bestimmten Blick“ reklamiert Emigholz quasi gegen die Lenkung der Blicke durch die Linienführung der Architekten. Sein „Sinn für Architektur“ ist somit vor allem einer für den Film, ja für das Tafelbild und seine imaginäre Perspektive fliehender Linien. Eine erstaunliche Reflektion der einen Kunst – in bewusster Betonung ihrer Möglichkeiten und Einschränkungen – über die andere und deren selbe. Und nicht zuletzt eine beinahe mönchische Kontemplation über die Stärken des Erkenntnismediums gefüllter Fläche gegenüber dem umbauten, umgebauten und daher leeren Raum. (jm)
„Sense of Architecture – Photographie und jenseits Teil 11“, Ö/D 2005-2009, 168 Min., HDV. Regie, Kamera, Schnitt: Heinz Emigholz, Originalton: Till Beckmann, Tonbearbeitung und Mischung: Jochen Jezussek, Christian Obermaier, Produktion: Heinz Emigholz in Zusammenarbeit mit Arge Artimage Kadadesign, Graz