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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Schräge schlimme Geschichten

Berlinale Shorts 5

„Was kann Religion dem Gläubigen bieten, desillusioniert sowohl von Gott wie dem Teufel?“ Ein nicht gerade hoffnungsvolles Motto (von E. M. Ciorán), das der mexikanische Regisseur Ivan Lomeli seinen „Buenas Intenciones“ („Guter Wille“) voranstellt. Auf den zwölf Stationen des Kreuzweges muss der junge Felipe (Jorge Adrián Espindola) jedoch genau das erfahren – oder auch: selbst bei bestem Willen lassen sich Katastrophen nicht verhindern. Das fängt schon an, als er mit einer Schreckschusspistole aus der letzten Videospiel-Session mit seinem Freund in einen Bus steigt, der von einem Gelegenheitsgangster überfallen wird. Felipe zieht die „Waffe“, der Gangster wirft ihm die Beute zu und entflieht – nunmehr ist Filipe als vermeintlicher Räuber der Verfolgte. Schutz suchend bei seiner Freundin, verwickelt diese ihn in ein Liebesspiel, zetert dann aber Mordio und Vergewaltigung, als der strenge Papa das Paar in flagranti ertappt. Erneut muss Felipe fliehen, auf dem nicht ohne Humor parodierten Kreuzweg, der ihn schließlich in die Obhhut eines Priesters führt, der ihn jedoch nicht vor der finalen Kreuzigung durch den aufgebrachten Mob retten kann. Lomeli zeichnet in schlanken 18 Minuten eine turbulente Schwejkiade, das Scheitern des kleinen und gutwilligen Mannes an den fiesen Verwicklungen des Schicksals, bei dem offenbar einer Würfel spielt, und das als Deus diabolus. Wenn das mit der Passion Jesu ähnlich gelaufen ist, was die zahlreichen neutestamentarischen Anspielungen nahelegen, dann hat man mit der Heilsbotschaft des Kreuzes sicher ebenso wie Felipe die Arschkarte gezogen.



Auf der Flucht vor einem göttlich-diabolischen Schicksalsspiel (Fotos: Berlinale)
Humor hat, wer trotzdem lacht, auch wenn einem solches Lachen der Protagonisten in Elkan Spillers fünfminütiger Vorstudie für einen längeren Dokumentarfilm eigentlich im Halse stecken bleiben müsste. In „Mama, L’Chaim!“ sehen wir den 62-jährigen Chaim Lubelski, der sich rührend um seine 95-jährige Mutter Nechama kümmert – indem er sie fortwährend zum Lachen bringt. Denn Nechama hat ein schweres Los zu tragen. Im Holocaust wurde beinahe die ganze Familie der polnischen Jüdin mit österreichischen Wurzeln ermordet, nur sie und ihr inzwischen auch schon verstorbener Mann überlebten. Doch Mama Nechama weint nicht, wenn sie – auf Deutsch – vom KZ spricht. Sie ist wütend – und lacht mit ihrem Sohn über das Unglaubliche des Völkermords. Nur so lässt sich die Erinnerung offenbar ertragen, wenn Chaim die Mutter liebevoll rüffelt: „Ja, Mama, ich weiß, im KZ gab’s nichts zu essen, dann kannst du wenigstens jetzt erstmal was essen und dann weiter über das KZ reden.“ Spillers Studie über zwei seiner entfernteren Verwandten zeigt, wie der Holocaust auch in der zweiten und dritten Generation gegenwärtig ist. „Es ist im Blut, es ist in den Genen, es ist im Wesen. Der Holocaust, das ist die Gegenwart“, sagt Chaim und zieht an seinem Joint, bevor er ihn Mama rüber reicht. Befreiung von dem Alptraum gibt es nur, wenn man lacht – und „Auf das Leben!“ trinkt und tanzt. Beeindruckend, wie dem Film diese komplexe Botschaft in nur fünf Minuten gelingt, wenn man auch umso mehr auf Spillers Langfassung gespannt sein darf.



Lachender Sieg über das Grauen: Nechama und Chaim Lubelski
Das Schlimme ins Schräge zu verwandeln, um ihm in der Maske des Lachens die Stirn zu bieten, das wagt auch Petra Schröder in „Der Prinz“. Bei einem Interrail-Urlaub in Rom treffen die 16-jährigen Mädchen Kristin und Moni (Paula Kalenberg, Jytte-Merle Böhrnsen) einen älteren Mann (Hannes Hellmann), der sich als Prinz des Hauses Bernadotte und als schwarzes Schaf der Familie outet: „Ich bin schwul!“. So befürchten die Mädchen nichts Böses, als der schwule Prinz, der sich recht tuntig gibt, sie zu sich nach Hause einlädt. Dort will er dann allerdings mehr. Sie sollen sich wie er ausziehen und ihm beim Masturbieren zusehen. Halb bestürzt, halb amüsiert von der bei aller Aufdringlichkeit liebevollen Art des Prinzen machen die Mädchen mit. Ein Film über ein Thema, das Petra Schröder „auch aus eigener Betroffenheit schon seit langem interessiert“, wie sie bei der Premiere sagt: Missbrauch. Feinfühlig erzählt Schröder diesen Missbrauch entfernt vom üblichen Täter-Opfer-Schema. Sexualität beruht zu einem erheblichen Teil auf einem gegenseitigen (Rollen-) Spiel mit Macht und Ohnmacht, Handeln und Erdulden. So auch im „Spiel“ mit dem Prinzen, in dem sich die Mädchen ebenso keck zeigen wie in der Eingangsszene, wo sie über die Samenergüsse ihrer Boyfriends philosophieren. Der Prinz erscheint zuweilen als Opfer seiner exhibitionistischen Gelüste, über die sich die Mädchen lustig machen. Dennoch bleibt klar, dass sie missbraucht werden, selbst wenn sie später darüber lachen. Eine labile Tändelei mit Liebe und Macht, dadurch auch ein Wagnis mit Gefahr für zahlreiche Missverständnisse (einen Pornogafievorwurf trug ihr der Film schon ein): Mutig, wie Schröder sich dem stellt.



Der Prinz und seine Mädchen
„Ich will keine schönen Bilder haben“, sagte Jöns Jönsson, seit 2006 Student an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam, seinem Kameramann Thomas Moritz Helm. Denn in „Havet“ ist das Idyll am schwedischen Ostseestrand brüchig. Das Rentnerehepaar Pelle und Agneta (Lennart Jähkel, Ann Petrén) führt dort ein unaufgeregtes Leben, wären da nicht Pelles schlimmer werdende Asthma-Anfälle, die gleichwohl von beiden geflissentlich übersehen werden. Agneta stellt ihm schweigend seine Pillen hin, Pelle schluckt sie genervt. Ein junger Nachbar lädt das Paar zu einer Geburtstagsparty ein, auch um sie aus ihrem trägen Trott zu reißen. Auf der Party lässt sich Pelle von einer Frau zum Tanz überreden, was Agneta nicht ohne Eifersucht, aber auch Sorge um die Lunge ihres Ehemanns sieht. Pelle bricht mit einem Asthma-Anfall auf der Tanzfläche zusammen. Agneta hat ihn wieder, als sie den Todgeweihten draußen zärtlich in ihrem Schoß bettet und beide statt seinem keuchenden Atem dem stillen Rauschen der See lauschen ... Jönsson erzählt seine Geschichte, indem er sie nicht erzählt. Wir müssen sie uns als Hintergrund hinzufantasieren. Insofern ein erfreulich unaufdringlicher, leiser Film, der seine Spannung aus dem Untergründigen bezieht, dem Drohenden, dem Nichtgesagten.



Nur scheinbar idyllisches Paar: Lennart Jähkel und Ann Petrén
Wo schräge Geschichten erzählt werden, sind Experimentalfilme nicht weit. Nicholas Brooks reduziert die Bleistiftstriche seiner Animation in „Laitue“ auf schemenhafte Kritzeleien mit geringstmöglichem Kontrast. Faszinierend, wie sich aus den wild durchs Bild schwirrenden Linienfragmenten wie von Geisterhand eben diese zusammenweben, wie aus Strichen Figuren werden, die sich wieder auflösen, geführt an einem Strang, der an die Oberleitungen einer Eisenbahn erinnert. Bilder, Assoziationen auf einer Reise, mehr Geschichte gibt es nicht – eben die des Denkens oder auch Träumens, untermalt von verfremdeten Geräuschen des Bleistiftes, der auf dem Papier schabt. Ein Film, der nichts ist als eine unendlich bewegte Zeichnung – und damit sehr viel.



Zeichnung mit den Geisterhänden des Films
Brooks’ feengleiche Animation sei technisch sehr langwierig und schwierig gewesen, erzählt der filmende Zeichner. Kaum weniger Aufwand scheute Jan Andersen in seinem Porträt einer seltsamen Obsession. Als die UdSSR Anfang der 60er Jahre ihre Vostok-Raumschiffe ins All schoss, war die Technik noch grobschlächtig und voller Effekte, die das Herz von Pyromanen höher schlagen ließen. So auch das des Raumfahrers in spe, den Jan Andersen in „Vostok’“ selbst mimt. In sieben Episoden versucht der immer wieder erfolglos mit einem auf der Startrampe aufgebockten Ford die Geschichte der sowjetischen Himmelsstürmer nachzuerleben. Dabei fliegen die Funken aus dem Motor des leider flugunfähigen Fords und im Auspuff werden Silvesterraketen gezündet. Die Folge ist, egal vor welchem Hintergrund der lahme Vogel aufgebockt ist – vom Autobahnparkplatz über die schrottige Industriebrache bis zum Museumsplatz mit Vostok-Raketen im Hintergrund und Militärkappelle im Vordergrund –, immer die gleiche: Viel Schall und Rauch, vor denen der glücklose Kosmonaut schließlich fliehen muss, und ein Ford, der am Boden bleibt. Erst in der letzten Einstellung hat er offenbar abgehoben und stürzt klassisch slapstickend wie ein Meteor aus dem Himmel. „Vostok’“ ist ein Spaß, der sich über die Basteleien von Nerds lustig macht, aber auch eine Hommage an die frühen Flüge ins All. Und nicht zuletzt ein schräges Spiel mit dem Medium Film, das uns im Kino das Fliegen lehrt – gerade auch in Schräglage. (jm)



Glückloser Himmelsstürmer
  • „Buenas Intenciones“, MEX 2009, 18 Min., 35mm. Regie, Schnitt: Ivan Lomeli, Buch: Ivan Lomeli nach einer Geschichte von Mónica Costa, Kamera: Eugenio Polgovsky. Mit: Jorge Adrián Espindola, Andree Magali González
  • „Mama, L’Chaim!“, USA 2008, 5 Min., HDCAM. Buch, Regie: Elkan Spiller, Kamera: Virginie Saint Martin, Ron Ramirez, Schnitt: Brendan Kruse
  • „Der Prinz“, D 2009, 15 Min., 35mm. Buch, Regie: Petra Schröder, Kamera: Claus Bosch dos Santos, Schnitt: Tobias Peper. Mit: Paula Kalenberg, Jytte-Merle Böhrnsen, Hannes Hellmann. Gefördert u.a. von der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein
  • „Havet“, D 2008, 23 Min., 35mm. Regie: Jöns Jönsson, Buch: Jöns Jönsson, Jan Fusek, Kamera: Thomas Moritz Helm, Schnitt, Sabine Herpich. Mit: Ann Petrén, Lennart Jähkel
  • „Laitue“, GB 2008, 9 Min., 35mm. Buch, Regie, Kamera, Animation: Nicholas Brooks
  • „Vostok’“, F 2008, 19 Min., 35mm. Buch, Regie: Jan Andersen, Kamera: Arnaud Bigeard, Dan Salzmann, Schnitt: Ana Agnello, Sounddesign: Cédric Lionnet. Mit: Jan Andersen, Gratkipoils Band