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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

59. Int. Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2009

Gerechtigkeit oder Zweckmäßigeit  

„Sturm“ (Deutschland 2009, Hans-Christian Schmid)

„Completion Strategy“ ist die irreführende, offizielle Terminologie für den erklärten Willen der UN, die Tribunale gegen Kriegsverbrecher des blutigen serbokroatischen Krieges binnen möglichst kurzer Zeit zu beenden. Der Integration der Balkan-Staaten in den Wirtschaftsraum Europäische Union sind die andauernden Prozesse hinderlich. Nur wenig Zeit könnte daher bleiben, um Kriegsverbrechen aufzuklären, der Verantwortlichen habhaft zu werden und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dass die Ankläger nicht nur gegen die skrupellosen ehemaligen Militärs zu Felde ziehen müssen, sondern die politische Ratio der Vereinten Nationen ihnen die Möglichkeit zu einer lückenlosen Aufarbeiten der Kriegsverbrechen nehmen könnte, ist der politische Hintergrund von Hans-Christian Schmids Wettbewerbsbeitrag „Sturm“, seinem dritten nach „Requiem“ (D 2006) und „Lichter“ (D 2003).

Hannah Maynard (Keryy Fox), Staatsanwältin am europäischen Gerichtshof in Den Haag bricht der frisch übernommene Fall gegen den ehemaligen jugoslawischen Offizier und mutmaßlichen Kriegsverbrecher Goran Duric unvermittelt zusammen. Duric ist angeklagt, der Hauptverantwortliche für die Deportation und spätere Ermordung von bosnisch-muslimischen Zivilisten in einer Kleinstadt in der heutigen Provinz Srpska. Doch der Hauptzeuge Alec wird einer Falschaussage überführt und nimmt sich das Leben. Die Staatsanwältin glaubt trotzdem an eine Verbindung des Zeugen zu den Verbrechen Durics und findet bei ihren insistierenden Ermittlungen vor Ort in Alecs Schwester Mira (Anamaria Marinca) ein Opfer wiederholter Vergewaltigung und Zeugin von Erschießungen auf Befehl von Duric.



Die Staatsanwältin (Kerry Fox) und ihre Zeugin (Anamaria Marinca) (Foto:Berlinale)
Die eingeschüchterte Schwester weigert sich auszusagen. Sie hat sich mittlerweile ein Leben mit deutschem Ehemann und Kindern in Berlin aufgebaut, fern von Bosnien, dem Land, für das sie keine Zukunft sieht, „wo sich die Menschen bei nächster Gelegenheit wieder gegenseitig an die Gurgel gehen“. Die Staatsanwältin bleibt hartnäckig, doch Durics kriegsgewinnlerische Seilschaft blockiert die Ermittlung bis in die höchsten politischen Ebenen. Mira ist ihre einzige Chance, den Fall mit einer Verurteilung abzuschließen. Als Mira nach einer Beinahe-Entführung ihres Sohnes durch Durics Hintermänner tatsächlich bereit ist auszusagen, droht die Richterschaft, die Zeugin nicht zuzulassen, um das Verfahren nicht in die Länge zu ziehen. Hannah Maynard ist gezwungen mit der Verteidigung einen faulen Kompromiss einzugehen und die Aussage Miras fallen zu lassen.
In dieser Situation wird das grundlegende Dilemma im Umgang mit einer Nachkriegsgesellschaft deutlich. Im Namen des zukünftigen Allgemeinwohls wird zugunsten der Kriegsgewinnler und auf Kosten der Kriegsgeneration auf eine konsequente Aufarbeitung von Kriegsverbrechen verzichtet.

Hans-Christian Schmid und sein langjähriger Drehbuchpartner Bernd Lange bereiten dieses Thema in einer Mischung aus klassischem Gerichtsfilm und Polit-Thriller auf. „Sturm“ vereint durchaus glücklich den Anspruch von politischer Aufklärung mit einem Potential für kommerziellen Erfolg. Die komplexen Sachverhalte internationaler Kriegsverbrechertribunale sollen nicht langweilen und die Protagonisten keine bloßen Platzhalter für politische Ämter und juristische Institutionen bleiben. Das gelingt durchaus, denn Schmid und Lange zeichnen ihre Protagonisten grau, mit multiplen Motiven und widersprüchlichen Charakterzügen. Alec will Gerechtigkeit für seine Schwester, doch er nimmt einen Meineid in Kauf, um sie zu erlangen. Staatsanwältin Hannah Maynard arbeitet an dem Fall zunächst auch ihren Frust über eine verpasste Beförderung ab. Barsch kanzelt sie Alec ab, als der sich für seinen Meineid entschuldigen will, und ist kurz darauf mit den tödlichen Konsequenzen konfrontiert. Kerry Fox spielt die Juristin nicht als zynische Karrieristin, sondern als eine abgearbeitete, desillusionierte Idealistin, die sich stets aufs Neue für das Richtige entscheiden muss. Selbst dem verbrecherischen Duric verleihen Schmid und Lange menschliche Züge, wenn er in der Eröffnungssequenz als fürsorglicher Vater mit seinen Töchtern in der Brandung eines Ferienstrandes spielt. Die Morde, die auf sein Kommando begangen werden, bekommen wir, wie die Staatsanwältin, nie zu sehen. Sein Opfer Mira muss nicht nur ihre Angst besiegen, sie muss sich auch zwischen einem zerbrechlichen Familienglück und der möglicherweise erlösenden Konfrontation mit einem menschlichen Monster entscheiden.

Lange und Schmid präsentieren mit „Sturm“ einen wahrhaft europäischen Stoff und einen durchweg spannend erzählten Polit-Thriller. Das Leid, das der Krieg auf dem Balkan verursacht, kennt keine Grenzen. Während Duric sich im Dauerurlaub in Spanien versteckt, lebt Mira mit ihrer deutschen Familie in Berlin. Aber auch dort bleibt sie für den Massenmörder und seine Hintermänner erreichbar. Jahre nach dem militärischen Konflikt, den Vergewaltigungen und Morden an Zivilisten lebt sie weiter in Angst. Nur eine konsequente und zeitlich nicht limitierte Verfolgung und Überführung der Kriegsverbrecher birgt eine Chance für einen wirklichen Neuanfang. (dakro)
„Storm/Sturm“, D/DK/NL 2009, 110 Min., D-Cinema/35 mm, Cinemascope. Regie: Hans-Christian Schmid, Buch: Bernd Lange, Hans-Christian Schmid, Kamera: Bogumil Godfrejow, Schnitt: Hansjörg Weißbrich. Mit Kerry Fox, Anamaria Marinca, Rolf Lassgard, Stephen Dillaneu.a.