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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Kritischer Blick auf das Nachkriegs-Japan

Shibuya-Minoru-Retrospektive



Eigentlich wäre es sein freier Tag gewesen. Doch daraus wird nichts, Dr. Mikumo hat just an diesem Tag die Bude voll. In seiner kleinen, eher ärmlichen Praxis im kriegszerstörten Tokyo geben sich die Notfälle die Klinke in die Hand: Eine junge Frau, die kaum in der Stadt angekommen, schon ausgeraubt und vergewaltigt wurde. Ein unerfahrener Yakuza, der sich den kleinen Finger amputieren lassen will, um sich bei seinem Boss Respekt zu verschaffen. Und ein paar Tunichgute, die die Praxis als bequeme Herberge nutzen und kaum zu bändigen sind.




„Doctor’s Day Off“ (1952): „Eigentlich ist heute mein freier Tag.“

Aber das ist erst der Auftakt zu „Doctor’s Day Off“, einer Produktion des japanischen Traditionsstudios Shochiku aus dem Jahre 1952, die eine ungewohnte Tonart anschlägt: Sie beginnt wie ein Film-Noir im ungeschminkt industriell-hässlichen Tokyo und kippt unversehens in eine Komödie mit humanistischer Botschaft und unverblümten Bezügen zur rauen Gegenwart im Nachkriegsjapan um.


Der Regisseur Shibuya Minoru (1907 - 1980) ist außerhalb Japans kaum bekannt, seine Filme gehören nicht zum Weltkino-Kanon und sind bislang im Westen nicht auf DVD verlegt. Sein Filmdebut hat er Ende der 30er Jahre, zuvor war er Assistent bei Naruse Mikio und Gosho Heinosuke, einmal sogar bei Ozu Yasujiro. Mit knapp 50 Filmen zwischen 1937 und 1966 gehört Shibuya aber zu den produktiven und langlebigen Regisseuren im von großen Film-Studios geprägten japanischen Kino der Nachkriegsjahre. Seine Filme gehören fast ausschließlich zum Genre der Shomin-geki, jenen Gesellschaftsdramen, die im gegenwärtigen, alltäglichen Leben einfacher Menschen spielen.


Der zentrale Protagonist in „Doctor’s Day Off“ ist ein alternder Arzt, der eigentlich an der selbstbezogenen, gewaltbereiten jungen Generation verzweifeln müsste. Stattdessen hilft er unbeirrt, wo er nur kann. Selbst unter verschärftem Alkoholeinfluss lässt er keine Notgeburt aus – auch wenn er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann, ob er das Kind überhaupt zur Welt gebracht hat. Typische Shibuya-Probleme – Gewalt, Gier und Trunksucht – finden sich in „Doctor’s Day Off“, doch noch sind sie abgemildert und relativiert durch die Figur des Arztes, der seinen tief verinnerlichten Humanismus dem allgemeinen moralischen Verfall entgegen hält.


Ein paar Jahre später, 1958, findet sich in „Days Of Evil Women“ bereits keine Figur mehr, die man als moralische Instanz lesen könnte. In dieser rabenschwarzen Komödie will jeder und mit allen Mitteln an das Geld des alternden, aber top-fitten Industriellen Yashiro. Wer macht das Rennen? Seine Geliebte, eine ehemalige Geisha, ihre Tochter oder der Chauffeur? Shibuya inszeniert die bissige Farce in Cinemascope und in satten Farben stringent auf ein mitleidsloses Ende hin: Keiner bekommt das Geld, aber alle bezahlen mit dem Leben. Die Familie, mithin die Gesellschaft, wird zerstört durch profane Selbstsucht, Ausrufezeichen.




„Days Of Evil Women“ (1958): Jedes Mittel ist recht bei der Hatz nach dem Geld.

Das Forum zeigt seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit dem Tokyo-FilmEx-Festival kleine Retrospektiven japanischer Regisseure. Im letzten Jahr war es Shimazu Yasujiro, auch er ein Vertreter des Shomin-geki-Genres, auch er bei Shochiku unter Vertrag, allerdings bereits früh auf Augenhöhe mit Naruse, Gosho und Ozu. In seinem Fall war es sein vorzeitiger Tod 1944, der eine Entfaltung seines Werkes zu voller Blüte und eine mögliche Entdeckung durch Filmliebhaber im Westen verhinderte. Die Wahrscheinlichkeit wäre nicht gering gewesen, denn Shimazu orientierte sich in Tonfall und Styling an den amerikanischen Komödien der 30er Jahre. Auf den Export zielte allerdings der zahlenmäßig enorme Output der japanischen Studios ohnehin nur sehr begrenzt, die meisten Filme waren schlicht für den Binnenmarkt bestimmt und nahmen deshalb zumindest nicht bewusst Rücksicht auf die Konventionen eines internationalen Kinos. Eine gewisse Befremdlichkeit machte daher sicherlich einen Teil des Reizes der Shibuya-Retro aus, allerdings sollte man diesen Aspekt bei der Bewertung dieses Regisseurs und seines Oeuvres außen vor lassen.


Das fällt insbesondere nicht leicht, wenn man die Ozu-Ikone Ryu Chishu in „Drunkards Paradise“ (1962), als schweren Alkoholiker bestaunen darf. Während Ryu bei Ozu als Vaterfigur den Inbegriff von Tradition, Stabilität und Bescheidenheit verkörperte, durfte er bei Shibuya sämtliche Zurückhaltung im Spiel fahren lassen. Dazu gibt es in dieser schwungvollen Sozialsatire reichlich Gelegenheit. Ryu spielt zwar wieder einen Vater, den mittleren Angestellten Atsumi Kozi, doch ist er seinem Sohn kein Vorbild an maßvollem Lebenswandel. Vater wie Sohn versacken allnächtlich in Sake-Bars, meist bis zum Filmriss. Ein tragischer, akoholgeschwängerter Unfall kostet den Sohn das Leben. Atsumi, geläutert, versucht einen trockenen Neuanfang, doch Teufel Alkohol lauert an jeder Ecke, gesellschaftlich akzeptiert und gefördert. Nach zahlreichen bitterbösen Kapriolen endet Atsumi schließlich wieder volltrunken in der Ausnüchterungszelle, diesmal ist jedoch alle Hoffnung auf Erlösung verloren.




„Drunkards Paradise“ (1962): Ryu Cishu ungewohnt exaltiert und slapstickhaft als Trunkenbold.

Shibuya inszenierte temporeich mit Hang zu überraschenden Wendungen und farbenfrohen Charakteren. Leise Töne waren seine Sache nicht, die Botschaften drängend und überdeutlich. Was seine Filme auch heute noch wichtig macht, ist der Einblick in gesellschaftliche Realitäten im Japan der Nachkriegsjahre. Shibuya war wohl weniger interessiert an zeitloser Filmkunst im Gewand des Historiendramas oder des stilisierten Kammerspiels, als vielmehr am direkten Diskurs mit seinem Publikum. Thematisch bewegte er sich eher in der Nähe der Sozialdramen von Naruse, doch scheinen seine Filme zugänglicher für jene Zuschauer, die im Kinosaal zuallererst leichte Unterhaltung suchten. Diesen Therapieansatz verfolgte Shibuya beharrlich wie sein Dr. Mikumo in „Doctor’s Day Off“: Er verabreichte die Medizin stets auf einem Stück Zucker. Es bleibt der beißende Nachgeschmack. (dakro)


Drei Filme von Shibuya Minoru, alle produziert von Shochiku Co. Ltd., Tokyo:
„Doctor’s Day Off“ (Honjitsu kyushin), Japan 1952, 35 mm 1:1.37 Schwarzweiß, 97 Min., Drehbuch: Saito Ryosuke, nach einem Roman von Ibuse Masuji, Kamera: Nagaoka Hiroyuki. Musik: Yoshizawa Hiroshi, Darsteller: Yanagi Eijiro, Tsuruta Koji, Mikuni Rentaro, Awashima Chikage u.a.
„Days Of Evil Women“ (Akujo no kisetsu), Japan 1958, 35mm, Cinemascope, Frabe, 110 Min., Drehbuch: Kikushima Ryuzo, Kamera: Nagaoka Hiroyuki. Musik: Mayuzumi Toshiro. Darsteller: Tono Eijiro, Yamada Isuzu, Okada Mariko, Ito Yunosuke u.a.
„Drunkards Paradise“ (Yopparai tengoku), Japan 1962, 35 mm Cinemascope Schwarzweiß, 93 Min., Drehbuch: Matsuyama Zenzou, Kamera: Nagaoka Hiroyuki, Musik: Mayuzumi Toshiro, Darsteller: Ryu Chishu, Ishihama Akira, Baisho Hieko u.a.