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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Die Macht des Körpers

„Swans“ (Hugo Vieira da Silva, Deutschland/Portugal 2011)


Schon der Anfang weist ins Organische. Ein Flugzeug rollt ins Bild, die Gangway wird angedockt und schmiegt sich an den Rumpf, als wollte sie die Passagiere aus dem Flugzeug saugen. Zu diesem Zeitpunkt weiß man noch nicht, worauf „Swans“ von Hugo Vieira da Silva hinaus will, und das wird noch eine Zeit so bleiben. Vater und Sohn – so muss man jedenfalls zunächst annehmen – reisen aus Portugal nach Berlin, wo sie eine Frau besuchen, die im Koma liegt. Es stellt sich heraus, dass sie die Exfreundin des Mannes und Mutter des Jungen ist. Von Anfang an herrscht Ratlosigkeit und Unbehagen angesichts dieser in jeder Hinsicht fremd gewordenen, reglosen Frau.


Körpererfahrung im Krankenhaus: „Swans“ (Foto: Berlinale)
Wenn es eine Geschichte in „Swans“ gibt, dann lässt sie sich höchstens fragmentarisch rekonstruieren. Es geht vor allem um die Darstellung eines Schwebezustands oder noch eher: eines Übergangs. Vater und Sohn leben nun – vorübergehend – in der Wohnung der Frau. Die wohnt dort mit einem Transvestiten zusammen. Der Sohn ist in der Pubertät und ist fasziniert von dessen zweigeschlechtlichem Körper. Sein Interesse an seiner eigenen Identität hat eine entschieden sexuelle Prägung: Er betastet Scham und Brüste seiner komatösen Mutter – ganz so, als mönnte er damit dem Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur kommen. Ob das gelingt, lässt der Film – wie alles – offen.

Wie hier die Körper ins Bild gesetzt werden, ist die Stärke und möglicherweise das Hauptanliegen des Films. Minutenlang massieren und biegen die Finger der Pfleger die steifen Finger der Komapatientin zurecht. Überhaupt wird den einfachsten Pflegeverrichtungen größte Aufmerksamkeit geschenkt. Genau so wie den erfolglosen Versuchen des Vaters, in der fremden Wohnung Schlaf zu finden. Wie er auch zieht, der Stoff reicht nie, um ihn zu bedecken. Auch eine gewissenhafte Masturbation des Sohnes reiht sich ein in diesen glasklaren Körperfilm. Da hilft auch modernste Technik nicht (vielleicht schadet sie sogar): Der Körper spendet Lust, aber er ist auch ein Gefängnis. (Sven Sonne)

„Swans“, Deutschland/Portugal 2011, 126 Min., Regie: Hugo Vieira da Silva, mit: Kai Hillebrand, Ralph Herforth, Maria Schuster.