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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Geschichten der Gesichter

„Twenty Cigarettes“ (James Benning, USA 2011)


Auf den ersten Blick mag die Beschreibung von „Twenty Cigarettes“ selbst den willigsten Zuschauer abschrecken: Feste Kamera auf Naheinstellung, davor nur eine Person vor unverändertem Hintergrund. Genau eine Zigarette wird geraucht, dabei kein Wort gesprochen, bis zur nächsten Person gewechselt wird. Und das ganze zwanzig mal. Kunst? Dokumentation? Kunst und Dokumentation? Die Frage wird schnell irrelevant, wenn man sich James Bennings („13 Lakes“, USA 2004; „One Way Boogie Woogie / 27 Years Later“, USA 2005; „Ruhr“, USA 2009) Film aussetzt.


Mit jeder Zigarette ...
Magische Anziehungskraft üben diese wortlosen Portraits aus, mit jeder Zigarette bietet sich die Möglichkeit, einen Menschen kennen zu lernen. Der Zuschauer bekommt keine biografischen Daten an die Hand. Anstatt einen Menschen anhand seiner dokumentierten Vita zu beurteilen, lehrt uns Bennings Film, unser Gegenüber genau zu betrachten, in den Gesichtern zu lesen. Es gibt viel zu entdecken: Blick, Mimik, kleine Gesten geben Hinweise auf Charakter und Gemütszustand. Kleine Informationshappen geben auch die räumliche Situation, der Hintergrund mit seiner Textur und die Tonspur her: ein Werkstattregal, ein angeschnittenes Familienfoto, eine bröckelige Wand. Ein kurzes Hundebellen wird zum Ereignis, ein Flugzeug oder ein vereinzelter, weit entfernter Gewehrschuss erzeugen Assoziationen. Unser Gehirn ist ständig am Zusammensetzen eines Puzzles. Das ist höchst anregend, zumal man sich des Vorgangs bewusst wird. Wie viel von der eigenen Einschätzung, von der Idee, die wir zu einem Menschen entwickeln, richtig eingeschätzt war, bleibt offen. Aber darum geht es auch nicht.


... eine neue Begegnung.
In „Twenty Cigarettes“ entdeckt man die Neugierde auf Menschen wieder. Ebenso die Lust, Gesichter auch intensiv anzuschauen, auf das vielfältige subtile Minenspiel zu achten. Wie sehr man sich das abgewöhnt hat, wird bei den ersten Portraits augenscheinlich. Die Protagonisten sind enorm präsent, immer wieder hat man das Gefühl, dass sie direkt aus der Leinwand herausschauen. Interessant, wie mächtig der Augenkontakt in der menschlichen Kommunikation ist, selbst, wenn er zur Hälfte im reproduzierenden Medium aufgehoben ist. Ein kleiner Verweis vielleicht an den menschlichen Blick in der Film- und Kunstgeschichte.

James Benning gibt uns in der sicheren Dunkelheit des Kinosaals die Möglichkeit, dieser Situation und diesem Blick standzuhalten und in aller Ruhe das Gegenüber zu betrachten. Das hat nichts mit Voyeurismus zu tun, auch nicht mit Exhibitionismus. Unwillkürlich überprüft man zwar diese Positionen, nur um festzustellen, dass Neugier und Offenheit die passenden Attribute für die Protagonisten auf beiden Seiten der Leinwand sind. „Twenty Cigarettes“ ist eine besondere Erfahrung und definitiv eine positive. (dakro)

„Twenty Cigarettes“, USA 2011, 99 Min., HDCam, Farbe, 16:9, 25 fps. Produktion und Weltvertrieb: James Benning, jbenning@calarts.edu.