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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Radikale Liebe und die Wurzeln der RAF

„Wer wenn nicht wir“ (Andres Veiel, D 2011)



Der meistdiskutierte Film des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs dürfte Andres Veiels Suche nach den Wurzeln der RAF in „Wer wenn nicht wir“ gewesen sein. Sein Film erzählt das Liebesdrama zwischen Bernward Vesper, Sohn des Nazi-Literaten Will Vesper, und der Pastorentochter Gudrun Ensslin bis zu deren Bruch mit Vesper und ihrem Abtauchen in den Untergrund mit Andreas Baader. Die Erwartungen an Veiels Spielfilm-Debut waren groß. Er gilt als interessantester, momentan vielleicht wichtigster deutscher Dokumentarfilmer. Veiel ist ein Meister des Porträtfilms, der in seinen Filmen oft gleichzeitig gesellschaftliche Psychogramme entwirft und mit „Black Box BRD“ (D 2001) einen wesentlichen Beitrag zum öffentlichen Diskurs über den deutschen Terrorismus geleistet hat. Die ersten publizistischen Reaktionen auf „Wer wenn nicht wir“ waren allerdings durchaus gespalten, das Interesse von Kritik und Publikum aber enorm. Die Jury belohnte das Drama mit dem renomierten Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven in der Filmkunst. Das Kino-Kapitel „RAF“ scheint trotz Bernd Eichingers medial sehr präsenter, letzter Großtat, dem Amphibien-Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ (Uli Edel, D 2009) noch lange nicht abgeschlossen zu sein.


Andres Veiel bezieht sich neben eigenen jahrelangen Recherchen vor allem auf Gerd Koennens biografische Studie „Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus“, die wiederum auf unzählige bis zur Veröffentlichung des Buches unbekannte persönliche Dokumente aufbaut. Veiel stellt seiner chronologischen Erzählung eine Kindheitserinnerung Bernward Vespers voran: Der Vater Will Vesper (überzeugend erdrückend: Thomas Thieme) erschießt im Garten Bernwards Katze, weil diese einen Singvogel gerissen hat und „Katzen nicht zu uns gehören, sie sind die Juden unter den Tieren“. Anschließend liest er dem kleinen Bernward ein Gedicht über die Nachtigall vor. Bernward (August Diehl in seinem Element des leidenschaftlichen Scheiternden) wächst mit der Blut-und-Boden-Literatur seines Vaters auf. Die Aufarbeitung vor allem väterlicher Erblasten zieht sich durch Vespers Biografie ebenso wie durch die von Gudrun Ensslin (intensiv: Lena Lauzemis), die er als Student an Tübinger Universität kennen und lieben lernt. Vesper überzeugt Ensslin, dass die Bücher seines Vaters wieder aufgelegt werden müssen, damit sie neu bewertet werden können, und startet mit ihr einen Verlag. Zunächst von der leidenschaftlichen Liebe zueinander geblendet, erkennt Ensslin zuerst den Irrsinn des Unterfangens. Bernward wird länger brauchen, sich von seinem inzwischen verstorbenen Vater zu befreien und seinen eigenen Idealen zu folgen. In der politisch links orientierten Berliner Bohème finden sich beide schnell zurecht, doch Gudrun ist in ihrer politischen Emanzipation weitaus radikaler als Bernward. Als sie, fasziniert von dessen Rebellencharme, mit Andreas Baader (glaubwürdig zwischen feminin, arrogant und gewalttätig pendelnd: Alexander Fehling) ein Verhältnis beginnt, folgen schon bald die ersten gewaltsamen Aktionen, die Frankfurter Kaufhausbrände. In der anschließenden Gerichtsverhandlung hält Bernward eine Brandrede für die Aktivisten. Doch nach ihrer Freilassung aus der Untersuchungshaft bricht Gudrun endgültig mit Bernward, lässt den gemeinsamen Sohn Felix bei ihm zurück und geht mit Baader in den Untergrund.




Aufbruchstimmung: Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) und Berward Vesper (August Diehl)

Veiel inszeniert „Wer wenn nicht wir“ schlicht und konzentriert auf das Schauspiel in einem dialoglastigen, meist kammerspielartigen Stil. Die hervorragenden Schauspieler sind es dann auch, die den Film vor der Biografiebebilderung bewahren und den Zuschauer mitreißen. Am spannendsten ist der Film dort, wo noch nicht die Bilder der Studentenunruhen beim Schah-Besuch die Erzählung auf die Schienen der bekannten historischen Ereignisse setzen. In den ersten zwei Dritteln des Films ist man ganz bei der radikalen Liebesgeschichte zwischen Bernward und Gudrun, den Auseinandersetzungen mit den Elternhäusern und der Familiengeschichte, der Aufbruchstimmung, ihren Experimenten mit einer Ménage a trois, den politischen Diskussionen am Küchentisch. Stets steht die drängende Frage im Raum, was zu tun sei, um mit der Vergangenheit aufzuräumen und die vom Vietnam-Krieg geprägte Gegenwart in eine gerechtere Zukunft zu lenken. Veiel kontrastiert mehrfach die Bilder von Atomtests, dem Eichmann-Prozess und Napalm-Bomben mit der angesagten Pop-Musik jener Jahre. Ein gewagtes Stilmittel, das zunächst aus dem Erzählfluss reißt und möglicherweise daran erinnern soll, dass der Zuschauer eine fiktionalisierte Biografie vor sich hat. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Veiel in diesen Vignetten den durchaus schizophrenen Zeitgeist der 60er pointiert: Während die Jugendbewegungen an ihrer persönlichen Selbstbefreiung basteln, wird staatspolitisch munter weiter auf den nächsten globalen, militärischen Konflikt hingearbeitet. Die Diskussionen mit den Intellektuellen der Berliner Politszene zeigen nicht nur die unterschiedliche Radikalisierung von Gudrun und Bernward. Veiel macht deutlich, dass sich politische Interessen und private Begehrlichkeiten nicht nur schwer trennen lassen, sondern bedingen. Gudrun emanzipiert sich nicht nur politisch, sondern auch emotional. Von dem Anti-Intellektuellen Andreas Baader ist sie fasziniert, weil er ein Mann der Tat ist, der auch schon mal zuschlägt, wenn er verbal nicht weiter weiß. Wenn Gudrun sich am Ende des Films und der gemeinsamen Geschichte nicht nur von Bernward trennt, sondern auch ihr Kind zurücklässt, ist das äußerst schmerzhaft, der Bruch endgültig, das ultimative Opfer erbracht. Jetzt muss es für Gudrun um das Ganze, um die Weltrevolution gehen. Bernward bleibt gebrochen zurück, sein Weg führt in die Psychiatrie.




Politisches und Privates untrennbar: Vesper, Baader (Alexander Fehling) und Ensslin

Die sorgfältige Ausstattung trägt ihren Teil zu dem beklemmenden Ambiente der Elternhäuser und ersten Studentenzimmer bei. Das trägt dem Film einen biederen Look & Feel ein, doch da treffen sich Filmästhetik und portraitierter Zeitgeist der ausgehenden 50er Jahre. Nur selten gönnt sich der Film symbolbeladene Bilder, neben der Eingangsszene sind es die apfelblütendurchwehte Verlobung im Garten von Bernward und Gudrun und Bernwards später Bruch mit dem Vater, eine der stärksten Szenen im Film: „Ohne Hitler hätte es dich doch gar nicht gegeben“, eröffnet ihm die Mutter (beängstigend hermetisch: Imogen Kogge), „denn dein Vater wollte nie Kinder.“ Als die Mutter ihn am nächsten Morgen nach (angedeutetem) Suizidversuch nackt aus dem Eiswasser der Badewanne zieht, macht das Bild von Mutter und Sohn deutlich: Neugeburt. Gudruns Bewusstwerdung geht meist mit physischen und psychischen Grenzerfahrungen einher, für die sie sich selbst entscheidet: freie Liebe, Schläge von Baader, die Trennung von Sohn Felix. Ob frei erfunden oder verbürgt, egal: Die Szene, in der eine verzweifelte Gudrun sich nackt auf die Scherben eines Weinglases setzt, ist extrem, und deshalb treffend.


Wie in „Black Box BRD“ gelingt es Veiel auch in „Wer wenn nicht wir“, die Geschichtsfiguren des deutschen Terrorismus auf fassbare Menschen herunter zu brechen. Natürlich kann die Vorgeschichte zum RAF-Terror keine Opferperspektive aufweisen, aber ohne relativierende Opfer bleibt auch diese Geschichte nicht. Veiel instrumentalisiert die Geschichte des Terrorismus aber nicht für ein leicht konsumierbares Prequel zu dem Best-Of-RAF-Actionfilm „Der Baader-Meinhof-Komplex“. Letzterer beschränkte sich doch auf die zeitgemäße Bebilderung der RAF-Aktionen und betreibt eine fragwürdige Ikonisierung. Das Gegenteil ist bei „Wer wenn nicht wir“ der Fall: Da wird nicht vereinfacht, da wird Diskurs betrieben, es bleiben Fragen offen und Widersprüche bestehen. Und es wird immer wieder die Jelineksche Frage gestellt, „was muss passieren, damit etwas passiert?“ „Wer wenn nicht wir“ sucht Relevanz in der Geschichte einer Generation im Aufbruch, er will den Bogen zum aktuellen Boom von Protestbewegungen von „Stuttgart 21“ bis „Gorleben“ schlagen. Die Erblasten heute heißen „Endlager“, „Klimakatastrophe“ und „Finanzkrise“. Wie werden wir diesmal damit umgehen? (dakro)


www.werwennnichtwir-film.de: Der Blog zum Film beschäftigt sich mit aktuellen Protestbewegungen und Reaktionen zum Film.


„Wer wenn nicht wir“, D 2011, 125 Min., 35 mm Cinemascope, Regie: Andres Veiel, Buch: Andres Veiel nach dem Buch „Vesper, Ensslin, Baader“ von Gerd Koennen, Kamera: Judith Kaufmann, Schnitt: Hansjörg Weißbrich, Musik: Anette Focks, Ausstattung: David Hoffmann, Felicity Good, Kostüm: Bettina Marx, Darsteller: August Diehl, Lena Lauzemis, Alexander Fehling, Thomas Thieme, Imogen Kogge, Michael Wittenborn, Susanne Lothar, u.a., gefördert durch die Filmförderung Hamburg-Schleswig-Holstein.