Der Newsletter zum Thema Medien in Schleswig-Holstein
herausgegeben von
Filmkultur Schleswig-Holstein e.V.



Impressum
Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013

In den blauen Bergen

„Top of the Lake” (Jane Campion/Garth Davis, Australien/Neuseeland 2012)


20 Jahre ist es her, dass Jane Campions wunderbares Werk „Das Piano“ mit Holly Hunter in der Rolle der Ada McGrath die Kinogänger dieser Welt nach Neuseeland entführte. Für „Top of the Lake“ arbeiteten die beiden seither jetzt erstmalig wieder zusammen – was natürlich an sich schon nahe legt, dass man dieses Leinwandereignis nicht verpassen durfte. Ja, die TV-Krimiserie wurde auf der Berlinale tatsächlich zum Kinoepos: Dort feierte „Top of the Lake“ auf der großen Leinwand seine Europa-Premiere, nachdem die Weltpremiere im Rahmen des Sundance Festivals stattgefunden hatte.

Holly Hunter ist in „Top of the Lake“ GJ, eine dürre Frauengestalt mit langen grauen Haaren und schnarrender Stimme, unter deren Leitung sich in einer idyllischen Bucht am See nahe des Ortes Laketop eines schönen Frühherbsttages eine Container-Siedlung von Aussteigerinnen niederlässt. Im „Paradies“, wie der Landstrich passenderweise heißt, wollen sie in einer Art Gruppentherapie ihre Gewalterfahrungen, Lebensenttäuschungen u.ä. bewältigen. Das über einen Immobilienmakler vermeintlich rechtmäßig erworbene Stück Land gehört allerdings dem Späthippie, Weiberhelden und – wie sich zeigt – örtlichen Drogenbaron Matt Mitcham (Peter Mullan), der bezüglich der Enteignung nicht mit sich spaßen lässt: Schon bald wird der ertrunkene Makler aus dem See gefischt.

Doch die von Jane Campion und Gerard Lee erdachte Storybeginnt an einem ganz anderen Punkt, nämlich mit Tui (Jacqueline Joe), der zwölfjährigen Tochter Matt Mitchams, die, tief im kalten Wasser des Sees stehend, von ihrer Lehrerin aufgefunden wird. Deshalb zur Schulärztin geschickt, entdeckt diese, dass das Mädchen schwanger ist, und zwar bereits im fünften Monat. So kommt die Hauptperson auf den Plan: Robin Griffin (Elisabeth Moss), Kriminalpolizistin und Spezialistin für Kindesmissbrauch. Als solche soll sie den Fall Tui als Assistentin des örtlichen Polizeichefs Al Parker (David Wenham aus „Die Päpstin“ und „Der Herr der Ringe“) aufklären. Doch am nächsten Morgen ist das Mädchen verschwunden, und es beginnt eine verzweifelte Suche in den trügerisch verwunschen wirkenden Bergen und Wäldern der Südinsel Neuseelands ...


Stille Wasser sind tief ... Jacqueline Joe in „Top of the Lake“
Robin Griffin wird dank Dialekttrainings täuschend echt neuseeländisch gespielt von der Kalifonierin Elisabeth Moss, der Darstellerin der Peggy Olson aus der Fernsehserie „Mad Men“. Die junge Kriminalpolizistin hat ihren Lebensschwerpunkt eigentlich lange schon nach Sydney verlegt und hält sich nur des schlechten Zustands ihrer schwer krebskranken Mutter wegen in Laketop auf. Durch das Verschwinden von Tui und die Begnungen mit den Leuten aus Laketop im Rahmen der Ermittlungen wird Robin massiv mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, nicht zuletzt mit ihrer Jugendliebe Johnno (Thomas M. Wright). Es brechen zahlreiche alte Wunden auf. Folge für Folge lassen die Autoren den Zuschauer neue, meistens böse, Überraschungen, Verflechtungen, Untiefen entdecken.

Der Bogen zwischen Skurrilität und Ernsthaftigkeit wird in „Top of the Lake“ gekonnt geschlagen: Kommunardin Anita (Robyn Malcom) berichtet beispielsweise von ihrer unglücklichen Liebe zu einem Schimpansen (!), und doch wird deutlich, wie in dieser Frauen-Community Gebrochene ernstlich um ein neues Leben ringen. Alt-Hippie Matt Micham, mit zünftigem schottischen Akzent großartig verkörpert von Peter Mullan, muss dank der Annäherungsversuche Anitas seine Libido-Probleme ebenso wie seinen Ödipus-Komplex zugestehen, bleibt aber eine zwielichtige Gestalt. Der schweigende Jamie, in seinem Wohnwagen nur hinter seiner Sammlung von Vogelknochen auffindbar, war mit Tui befreundet – wie weit ging diese Beziehung? In „Top of the Lake“wird die neuseeländische Provinz von Machos und Sexisten dominiert, denen es gerade Recht ist, als schließlich ein entlassener Pädophiler verdächtigt wird, sich an Tui vergriffen zu haben.

Es mag auch an dem Konzept als Mini-TV-Serie, die die Spannung in jeder Folge steil hochfahren muss, liegen, dass „Top of the Lake“ von den Inhalten her viel Konventionelles zu bieten hat: Das private Involviertsein der Ermittlerin kommt einem ebenso bekannt vor wie die Jagd auf einen Vorverurteilten und das durchaus reißerische Ende, das der vermeintlichen Provinzidylle die Maske endgültig vom Gesicht reißt. Das faszinierende, geradezu mystische äußere Erscheinungsbild von „Top of the Lake“ (Kamera: Adam Arkapaw) hebt jedoch alles auf eine besondere ästhetische Ebene, die auch diese Inhalte buchstäblich in ein anderes Licht rückt: Durch alle Folgen zieht sich ein neblig-eisblauer Farbton des neuseeländischen Winters, ab und zu kontrastiert durch das Goldgelb der Wiese von „Paradise“ und das Orange von Johnnos Zelt und Lagerfeuer in einer Waldlichtung. Arkapaw vermag durch dieses Farbenspiel und die zugleich zauberhaften und geheimnisvollen Landschaftsaufnahmen rund um die Gemeinde Queenstown, wo die Reihe gedreht wurde, eine Fantasy-Atmosphäre zu schaffen. Wohl deshalb wird „Top of the Lake“oft als Mystery-Thriller bezeichnet. Der beinahe unendlich scheinende See, in dem nicht zuletzt Robin Griffins Vater ertrunken ist, und der Wald mit seinen Schlingpflanzen und Baumwurzeln scheinen ihre ganz eigene Rolle für die Geschehnisse in Laketop zu spielen.

Am Ende der 350 Minuten des Mehrteilers ist man um eine gut konsumierbare und doch ganz besondere Krimi-Serie und eine eigenwillige Protagonistin reicher. In Australien und Neuseeland, den USA und Großbritannien wird „Top of the Lake“ noch im März auf verschiedenen TV-Kanälen laufen. Wenn man alle Folgen sieht, hat man den (neuseeländischen) Winter hinter sich, meinte Jane Campion. Das wäre doch eine Idee für den deutschen Herbst! (gls)

„Top of the Lake“, AUS/NZ 2012, 350 Min., DCP, Regie: jane Campion, Garth Davis, Buch: Jane Campion, Gerard Lee, Kamera: Adam Arkapaw, Schnitt: Alexandre De Franceschi, Scott Gray, Darsteller: Elisabeth Moss, David Wenham, Peter Mullan, Thomas M. Wright, Holly Hunter, Jay Ryan, Kip Chapman, Jacqueline Joe, Robin Malcolm u.a.