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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

64. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2014

Von einer Hoffnung, die sich nicht erfüllt

„Fremd“ (Miriam Faßbender, D 2011)


Ein Afrikaner erklärt die „Reiseroute“ und skizziert sie mit einem schwarzen Stein auf einer hellen Steinplatte am Boden: von Nigeria nach Mali, dann nach Algerien und weiter etwas nordwestlich nach Marokko an die Mittelmeerküste gen Spanien. So anschaulich, ja schön und in seiner Schlichtheit eindrucksvoll beginnt der Dokumentarfilm „Fremd“ von Miriam Faßbender. Der Film strotzt nicht gerade vor Schauwerten und brennt sich doch in seiner Beschreibung von Hoffnung und Schicksal beim Betrachter in die Erinnerung ein. Die Kamera Faßbenders begleitet den jungen Mohamed aus Mali bei seinem beschwerlichen Emigrationsversuch aus seiner Heimat bis an die marokkanische Küste. Mohamed wird von dort aus einen Fluchtversuch übers enge Meer nach Europa wagen. Schon einmal hat er es versucht und ist schließlich gescheitert von den Kanarischen Inseln mit dem Flugzeug in sein Herkunftsland abgeschoben worden.


Mohamed noch in seiner Heimat Mali
Was wir in „Fremd“ sehen, sind junge Männer, die kaum eine Wahl zu haben scheinen. Der Film zeigt einen Weg voller Warten und Hoffen, Plagen und Leiden. Illegal mit gefälschten Visa schlagen sie sich von Mali nach Marokko durch, auf einer Route, die sicherlich schon viele andere vor und nach ihnen mit Illusionen passiert haben und werden. Das Warte-Schauspiel, was sie dann auf ihrer ersten Station im Algerien abgeben und erleben, wird typisch für die folgenden bis hin zu ihrem finalen Fluchtversuch sein. Immer auf der Hut vor Polizei und Militär, die sie mit Abschiebung bedrohen, mit einer Mischung von Mut und Hoffnung im Herzen, verstecken sie sich in geheimen Quartieren, anfangs wenigstens noch mit einem festen Dach überm Kopf, später nur noch unter freiem Himmel unter ein paar Plastikplanen als Zeltersatz gegen Sonne und Regen.


Kampieren unter Plastikplanen
Faßbender beschreibt mit ihren Protagonisten, zu Mohamed gesellt sich später unter anderem noch der Zentralafrikaner Jerry, eine Generation von jungen Männern, die zumeist von ihren Familien daheim dazu bestimmt, man könnte auch sagen, dazu verdammt wird, ihrer „Reservate“ am Rande eines afrikanischen Existenzminimums zu entfliehen, um ein Paradies zu suchen, das da Europa heißt, welches es aber bald selbst schon in den Ahnungen der Protagonisten nicht geben kann. Als Zuschauer braucht man Geduld, den beständigen Gleichmut der Männer zu ertragen, der nur gelegentlich von gezeigter Enttäuschung und Verzweiflung durchbrochen wird. Was wird diesen Menschen bloß angetan oder was tun sie sich an, könnte man pathetisch fragen und dabei alles Pathos in Trauer verlieren.

Mohamed aus Mali erzählt zu Beginn ein typisches Schicksal. Als ältester Sohn eines kleinen Reisbauern, wird er von seiner nun verwitweten Mutter auserkoren, das Schicksal der Familie zu verbessern, obwohl er viel lieber daheim bleiben möchte. Man ist mit sieben Geschwistern immer so gerade durchgekommen, hat sich mit dem Ertrag von ein paar Feldern und dem Verdienst der Mutter als Haushaltshilfe durchschlagen können. Vernünftige Arbeit gibt es ohne Berufsausbildung oder Unterschlupf bei einem der raren Entwicklungsprojekte kaum. Was bleibt, ist, sich als Tagelöhner bzw. Hilfsarbeiter für umgerechnet 1,50 Euro am Tag zu verdingen. Eine betrübliche Perspektive. Die nur anfangs oberflächlich betrachtet für uns pittoresken afrikanischen Straßenszenen, die Mohameds Erzählungen illustrieren oder unterbrechen, können kaum über die Not der Bevölkerung hinwegtäuschen. Ein Melonenverkäufer schiebt geduldig die Früchte anpreisend seinen Karren durch die staubigen Straßen. Wir sehen, wie einfachst Reifen geflickt werden oder ein alter abgelatschter Plastikschlorren repariert wird, den es nicht mehr lohnt.

Mohameds Mutter hat ihre wenigen Kühe, mit denen ihre Familie bisher die Felder bestellt hat, verkauft. Die erlösten umgerechnet 1.500 Euro sollten für den Sohn die „Fahrkarte“ nach Europa ermöglichen und damit der gesamten Familie ein besseres Leben sichern. Wie trügerisch dieser Plan ist, hat Mohamed schon durch seine erste Abschiebung erfahren. Wie er sich das Kapital für einen zweiten Versuch erarbeitet, streift der Film in fragmentarischen Sequenzen. Um nach Algerien zu kommen, braucht es nicht so viel. Dort lässt er sich von den arabischen Bauern mit ihrer herablassenden Behandlung als Saisonarbeiter z.B. in der Gemüse- und Orangen-Ernte demütigen. Später, in Marokko, erzählt er auch, dass er aus schierer Not heraus alle seine guten Vorsätze fahren lassen muss und sich selber als Schlepper betätigt. Anders sei das Geld für die eigene Flucht, minimal 1.400 Euro für eine Flüchtlingsbootspassage übers Meer, nicht zusammen zu bekommen.

In den langen Monaten zuvor kampiert Mohamed mit seinen Emigrationsfreunden in der Halbwildnis am Rande der Ansiedlungen und Städte, bettelt, wenn es sein muss, auf den Straßen, ja sogar auf Friedhöfen, durchstreift auf Nahrungssuche auch Müllhalden. Kennzeichnend für sein Schicksal mag ein Songrefrain im Film stehen: „Meine Seele ist müde, und ich ermüde mich“. Sein Freund Jerry erläutert die Philosophie von persönlichem Reichtum und Ruhm in Europa, mit deren Hilfe er sich dann auch Achtung und Ansehen daheim erkaufen könne. Denn in seinem Land funktioniere nichts ohne Geld. Man müsse sich das Gehör der Leute erkaufen.

Frappierend ist die Desillusionierung der Betroffenen schon in Afrika. „Afrika ist nicht das Paradies, doch für Afrikaner ist es das. Wenn es das nicht ist, wohin soll ich dann aufbrechen?“, meint Jerry. So riskieren sie schließlich früher oder später, manche brauchen Jahre für den finalen Schritt, ihr Leben, bei der Flucht übers Meer in von arabischen Schleppern selbst zusammengezimmerten Booten oder bei der Gefahr, von Wachen an den Grenzzäunen zu den spanischen Enklaven auf afrikanischem Boden erschossen zu werden. Sprichwörtliche Geduld und Gottvertrauen scheinen zwangsläufig proportional zu dem immensen Risiko für Leib und Seele zu stehen. Und zu vielen ist schon die frustrierende Kunde gedrungen, dass es mittlerweile auch in Spanien keine Arbeit mehr gebe.

„Fremd“ bildet das Psychogramm einer fatalen Hoffnung ab, die sich bei den gegebenen Verhältnissen nicht erfüllen kann. Die Betroffenen geben viel, zahlen einen hohen Preis und bekommen bestenfalls Enttäuschung. So belegt der Film hart und in leiser Klage, was wir alle schon längst wissen, nämlich, dass Flucht aus den „Verhältnissen“ der so genannten „Dritten Welt“ keine Lösung sein kann, mag sie sich auch noch so unabänderlich aufdrängen. Und darüber hinaus: Wir alle tragen Verantwortung für die Verhältnisse, ob wir es nun wissen und glauben wollen oder nicht. (Helmut Schulzeck)

„Fremd“, Deutschland 2011, 92 Min., Farbe. Buch, Regie und Kamera: Miriam Faßbender, Schnitt: Andrea Schönherr, Sylke Rohrlach, Andreas Landeck, Schnittdramaturgie: Gesa Marten, Filmförderungen: A-38-Produktionsstipendium, Projektförderung der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH).

„Fremd“ ist auf der Berlinale 2014 in der Sektion „LOLA@Berlinale“ zu sehen: Do, 13.2.2014, 12 Uhr, Zoopalast 2.