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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

64. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2014

Das Wegschauen unmöglich gemacht

„German Concentration Camps Factual Survey“ (Sidney L. Bernstein, GB 1945/2014)


In einer einzigen Vorstellung war auf der Berlinale 2014 die restaurierte und vervollständigte Fassung des Dokumentarfilms der Alliierten Streitkräfte über die Befreiung der Konzentrationslager am Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zu sehen. Sidney Bernstein leitete 1945 die Produktion der „German Concentration Camps Factual Survey“, der die Verbrechen der Nazis in den Konzentrationslagern dokumentieren und der deutschen Bevölkerung die von ihnen mitzuverantwortenden Greultaten vor Augen führen sollte. Doch noch vor der Fertigstellung wurde das Projekt auf Eis gelegt. Ende 1945 stand die Motivierung der Deutschen zu Aufbauleistungen im Vordergrund, die Alliierten befürchteten, Zwangsvorführungen der KZ-Greuel würden sich kontraproduktiv auswirken. Lediglich eine von Billy Wilder geschnittenen 22-minütige Fassung des Materials wurde in der amerikanischen Besatzungszone unter dem Titel „The Mills Of Death“ gezeigt. Die bis Ende 1945 geschnittene 55-minütige Fassung der Britten gelangte erst 1984 unter dem Titel „Memory Of The Camps“ zur Aufführung auf der Berlinale. Nun nahmen sich der Leiter und die Kuratoren des Imperial War Museums in London, in deren Archiven das Originalmaterial verwahrt ist, einer kompletten Restaurierung und Vervollständigung nach Original-Schnittvorgaben an. Die nach der Ergänzung der letzten Rolle nunmehr auf 70 Minuten angewachsene Fassung stellten der Leiter des IWM David Walsh sowie die Leiter und Editoren der Restaurierung Toby Haggith und George Smith in der Forums-Sektion vor. Sie wurden nicht müde, die gemeinsame Leistung der Kamaramänner und Fotografen sowie die der Filmcutter zu betonen, denen sie auch die Autorenschaft für den Film zusprechen.

Der Film beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dann wird der Zuschauer Augenzeuge der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen in der Nähe von Celle. Es gehört zu den ungeheuren Leistungen der Kameramänner und Fotografen der „Psychologic Warfare Division“, dem Anblick, der sich ihnen in den Konzentrationslagern bot, standgehalten zu haben. Völlig unvorbereitet traf sie das bis dahin unvorstellbare Ausmaß menschlicher Grausamkeit. Gewohnt, Kriegsgeschehen mit Linsen großer Tiefschärfe aufzunehmen, gerieten den Kameraleuten etliche Detailaufnahmen unscharf, wurden aber trotzdem in der Schnittfassung verwendet. Etliche der drastischen Bilder sind aus anderen KZ-Dokumentationen bekannt. „German Concentration Camps Factual Survey“ nimmt sich aber Zeit, ein kompletteres Bild des Lagers zu zeigen. So fangen die Kameraleute z.B. die Reaktionen der weiblichen Lagerinsassen auf die inhaftierten KZ-Wächter und Wächterinnen ein, die befreiten Kinder werden in der Krankenstation beobachtet. Die bisher bekannten Dokumentationen konzentrieren sich hingegen meist auf männliche Gefangene.


„Smiling children through barbed wire“ taken by Sgt Lewis, 19-20 April 1945 (Foto: Imperial War Museum Film 1001)
Jedem Aspekt der Restaurierung gingen sorgfältige Abwägungen voraus. So wurde die Kommentarspur des Filmes nach dem damels verfassten Manuskript von einem Schauspieler neu eingesprochen, der zwar den Sprachduktus eines britischen Offiziers andeutet, aber nicht nachahmt. Fehler, die bei der Revision des Kommentarskripts aufgefallen wären, hat das Team des IWM korrigiert, Irrtümer, die aber Stand der Zeit waren, wurden belassen. So entsprechen einige statistische Angaben nicht dem heutigen Stand historischer Forschung, waren aber damals Stand der Kenntnis. Die Restauratoren konnten auf die noch vorhandenen Kameranegative des insgesamt 14-stündigen Materials zurückgreifen, viele Einstellungen verblüffen und erschrecken mit der unglaublichen Direktheit des klaren Bildes, ungemindert durch die Distanz, die ein durch die Zeit zersetztes Filmmaterial gewährt.

Die Cutter des Films haben den Schnitt erstaunlich hoch aufgelöst, sodass in einem sehr begrenzten zeitlichen Raum eine äußerst hohe Informationsdichte realisiert wird. In den eigentlichen knappen 70 Minuten wird die Befreiung und die Auflösung des Lagers Bergen-Belsen erzählt, aber auch ein Überblick über die größten Vernichtungslager gegeben. Alle Alliierten Streitkräfte drehten bei der Befreiung der Lager Material, dass in die gemeinsame Dokumentation einfloss. Insbesondere die Aufnahmen der sowjetischen Kameraleute in Auschwitz gehören zu den ikonischen Bildern der deutschen Kriegsverbrechen in den Konzentrationslagern. Aber mit der restaurierten Fassung tauchen auch Sequenzen aus unbekannteren Lagern wie dem KZ Ebensee auf. „German Concentration Camps Factual Survey“ schließt mit Bildern einer der „Lagerführungen“ für Deutsche, die in der Nähe der KZs wohnten und ihr Leben in vermeintlicher Unwissenheit und Unschuld führten. Es bleibt unvorstellbar, dass benachbarten Siedlungen nichts vom Geschehen in den Lagern bekannt wurde. Aber angesichts der Leichenberge wurde ein Wegschauen unmöglich. Ebensolches leistet der restaurierte Film, der auch mit Jahrzehnten an historischer Distanz seine Wirkung nicht verfehlt.

Das Team des IWM will die weitere Auswertung des Films sorgsam erwägen. Es bleibt zu wünschen, dass der Film auf breiter Basis zugänglich gemacht wird und seinen Platz unter den wichtigen Holocaust-Filmen, aber auch unter den Meilensteinen des Dokumentarfilms einnimmt. (dakro)

„German Concentration Camps Factual Survey“, Grobritannien 1945/2014, 70 Min., Schwarz-Weiß. Produzent: Sidney L. Bernstein, Leitung: Sergei Nolbandov, Schnitt: Stewart MacAllister, Peter Tanner, Marcel Cohen, Treatment, Kommentar: Colin Wills, Richard Crossman, Treatment-Beratung: Alfred Hitchcock, Recherche: Gordon R.R. Taylor; Wissenschaftliche Beratung: Solly Zuckerman, Restaurierung/Produzent: David Walsh, Restaurierung/Leitung: Toby Haggith, Restaurierung/Schnitt: George Smith, Sprecher: Jasper Britton, Produktion der restaurierten Fassung: Imperial War Museum, London