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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

65. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2015

Vom Scheitern an der Unerfüllbarkeit junger Träume

Zwei deutsche Filme aus dem Wettbewerb: „Victoria“ und „Als wir träumten“


Der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Victoria“ von Sebastian Schipper machte Furore bei der Kritik auf der Berlinale. Allerdings konnte man sich nach Anschauen des Filmes und Pressecho des Eindrucks nicht erwehren, dass mehr die Produktion, sprich die Dreharbeiten und das bezügliche Drumherum, im Mittelpunkt des bewundernden Lobes stand als das tatsächliche Resultat, das aber allerorten gerühmt und bejubelt wurde. („Absolut gigantisch … Ein irrsinniges Experiment, ein fantastischer Film“, ZEIT online; „… ein mitreißender 140-Minuten-Rausch“, SPIEGEL online; „Radikal, atemberaubend, mutig – bester Berlin-Film seit langem“, Berliner Zeitung usw.) Dabei birgt gerade das Wagnis dieses Produktionsprozesses bzw. dieser Drehweise die Risiken, die Schippers dennoch beachtenswerter Film nur teilweise bewältigt hat.

Worum geht es in diesem so genannten Coming-of-Age- und Bankraub-Film? Eine junge Spanierin namens Victoria (sehr beachtlich hier: Laia Costa), die sich noch nicht lange in Berlin als Bedienung in einem kleinen Bio-Café verdingt, trifft nach einer durchtanzten Club-Nacht auf vier Berliner Jungs mit „Ghetto-Attitüde“ aus dem Kiez. Unter wachsender gegenseitiger Sympathie lernen sich die fünf durch die späte Nacht Stromernden kennen. Zwischen einem der jungen Kerle, Sonne (Frederick Lau), und Victoria scheint es zu funken. Als sie schließlich kurz vor Morgengrauen in Victorias Café landen, überschlagen sich jedoch die Ereignisse jäh. Völlig unerwartet stellt sich heraus, dass einer der vier Kumpane zur Begleichung einer früheren Schuld von Profi-Gangstern just in dieser Nacht zu einem Banküberfall am anschließenden Morgen gezwungen werden soll, zu deren Ausführung er nicht nur die Hilfe seiner Freunde, sondern auch Victorias Unterstützung als Fahrerin des Fluchtautos braucht. Sie beugen sich dem Zwang und führen den Überfall durch. Der weitere Fortgang der Geschichte wird dann von den genre-typischen Handlungsbausteinen bestimmt und bietet auch zum Ende hin von der Handlung her trotz aller Dramatik und Spannung keine aus dem Rahmen des Üblichen fallenden Überraschungsmomente mehr. Schipper kennt sich in diesem Genre aus.


Non-stop durch Berlin: Die jugendlichen Helden aus „Victoria“ (Foto: Senator Filmverleih)
Das Außergewöhnliche, unkonventionelle, wenn auch nicht total Neue ist, dass die sich in die Länge ziehende Handlung in einem Rutsch durchgespielt und auch in einer einzigen Einstellung, mit bewegter und bewegender Handkamera, aufgenommen wurde. Das zeitigt natürlich schon einen ungewöhnlichen Film, zumal alle Darsteller sich mit Erfolg darum bemühen, glaubwürdig zu wirken. Nach einer dreimonatigen Probezeit wurde auf Basis eines sage und schreibe zwölf Seiten starken Drehbuchs, das keine Dialoge enthielt, in drei aufeinander folgenden Nächten der Film dreimal „abgedreht“, wobei zum glücklichen Ausgang der dritte Versuch nicht nur den Erwartungen des Regisseurs gerecht wurde.

Dennoch überzeugt der Film nicht unbedingt über alle Strecken, was natürlich der außergewöhnlichen Produktionsweise geschuldet ist. Nach einem sehr gelungenem Intro mit Hauptdarstellerin Laia Costa als in sich versunkene, sich völlig dem Tanz hingebende, vom Augenblick Berauschte folgt eine überlange ca. 45-minütige Exposition. In dieser sind die Handlungsträger – wie auch im Rest der 140 Filmminuten – zwangsläufig mehr oder minder auf sich allein gestellt. Schippers sprach im Interview vom Mikro-Coaching des Regisseurs während des Drehens. Drehbuch, vorherige Proben und Regisseur geben besonders fürs anfängliche Kennenlernen der Figuren durch Unterhaltung mit einander nur einen sehr dürren Rahmen vor. So „turnen“ sich die jungen Leute mit ihren völlig improvisierten Dialogen durch die nächtlichen Sets hinauf bis zu einer „Dachlandschaft“. Das freundliche von anfänglicher „Anmacherei“ und männlichem, adoleszentem Imponiergehabe geprägte „Geplauder“ will lange kein Ende nehmen. Man mag das interessant bis spannend finden. Ich fand es einfach zu lang, meine Geduld strapazierend, vor allem der Improvisation und der Drehweise geschuldet. Die jungen Männer „produzieren sich“ vor ihrer neuen gemeinsamen „Eroberung“. Alle müssen außerdem auch erst einmal während des Spielens (d.h. natürlich auch des Drehens) von einem Originalset zum nächsten kommen: vom engen, clubigen Partykeller durch den von Straßenlaternen beleuchteten Kiez hinauf aufs hohe Flachdach. Überhaupt kommt der Film auf eine beachtliche Anzahl von verschiedenen Schauplätzen: Clubkeller, Hochhausdach, Bio-Café, Tiefgarage, Autoinnenräume, Treppenhäuser, Wohnungen in Mietskaserne, Hotelsuite, dazu diverse Straßen und Hinterhöfe.

Dabei wetzen die Personen bisweilen mit einem ziemlichen Tempo durch die städtische Szenerie. Der Kamera (Silberner Bär für herausragende künstlerische Leistung an den norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen) bleibt dann bei den Temposteigerungen dieses Marathonlaufs gar nichts anderes übrig als hinterherzuhecheln, es sei denn, sie „sitzt“ mit den Akteuren in den Autos. So bildet sie dann bisweilen das Geschehen aus einer Position von hinter dem Rücken der Darsteller ab, was nicht unbedingt von Vorteil ist, obgleich so eine gesteigerte Dramatik entsteht.

Der dreiteilige Film, der gegen Ende beachtlich an Tempo gewinnt, obwohl er auch hier, wie so oft, des Guten zu viel macht und z.B. anstatt eines gleich mindestens zwei Filmenden hintereinander liefert, entkommt letztlich doch nicht seiner Vorgabe, das Gedrehte nicht zu schneiden. Später entdeckte Überlängen kann man eben dann nicht mehr kürzen. Unmittelbarkeit der Handlung und quasi dokumentarische Beobachtung des Geschehens mit einer Technik, die an das Verfahren von direct camera erinnert, haben hier ihren Preis. Der Film verliert streckenweise an stringenter Konzentration auf das Wesentliche, überanstrengt die Aufmerksamkeit des Zuschauers, auch weil es zu einem ökonomischeren Ansatz nicht reicht. Die innere Balance von "Drehbuch", Dialogen und Anzahl der Drehorte wird nur bedingt erreicht. Das rächt sich für den Film. Darüber kann auch kein noch so positives Echo der deutschen Kritik hinwegtäuschen.

Andreas Dresen ist mit „Als wir träumten“ ein halbstarker Film über fast Halbstarke gelungen. Parallelen zu Schippers „Victoria“ drängen sich auf. Hier wie dort eine eingeschworene Clique von Heranwachsenden, jungen Männern mit einer Frau. Hier wie dort noch Spätpubertierende, die am eigenen Wollen, an der Unerfüllbarkeit ihrer Träume scheitern. Aber die Berliner Halbwüchsigen in „Victoria“ scheinen seelisch und geistig weiter, mehr in ihrer Umgebung geborgen, mehr bei sich daheim zu sein als die noch nicht ganz ausgewachsenen „Technobuben“ aus Sachsen. Ihre Gruppendynamik funktioniert eher. In Dresens Film hingegen müssen die unreifen Leipziger Kerle zudem noch mit ihrer vergangenen, latenten DDR-Schülerzeit zurechtkommen. Und jetzt, da sie noch kaum 18 sind, ebenso mit der anarchischen Zeit des Um- und Aufbruchs der sich ziemlich unvermittelt in der Bundesrepublik wiederfindenden so genannten „Neuen Bundesländer“.

Während sich Schippers Film „Victoria“ an einer linear erzählten Geschichte festhalten kann und so eine strikte Orientierung in der Realzeit simulierenden Einheit von Raum und Zeit findet, muss Dresen mit dem Gemischtwarenladen seiner Episoden und Rückblenden klarkommen. Altmeister Wolfgang Kohlhase, mit dem Dresen eine langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit verbindet, hat dem Regisseur mit seinem Drehbuch nach Clemens Mayers aus dem Jahre 2006 stammenden gleichnamigen Roman einen zu Anfang von Kraft strotzenden Filmstoff vorgelegt. Der im ersten Teil mit temporeicher Verve agierende Film versucht, die wilden, wüsten Zeiten im rechtsfreien Raum der Leipziger Vororte und Industriebrachen, in der nur die Macht der Stärkeren gilt, während und kurz nach der Wende aus der Perspektive einer von Entwurzelung bedrohten Freundesgruppe einzufangen. Die großenteils wild und düster anmutenden Episoden werden mit Rückblenden aus dem braven, heilen, indoktrinierten Schüleralltag in der Spät-DDR kontrastiert, der schon von der herannahenden „kapitalistischen“ Zukunft bedroht ist.


Fünf Freunde in halbstarken Wendezeiten: „Als wir träumten“ (Foto: Berlinale)
Fünf Freunde glauben an Selbstverwirklichung und Realisierung ihrer Träume, sind ganz ungestüm und unbeherrscht. Als sie nach anfänglichen Schwierigkeiten eine illegale Techno-Disco äußerst erfolgreich in der Vorstadt etablieren können, werden sie vom lokalen kriminellen „Platzhirschen“ bedroht, der seine brutale Schwadron, neonazistische „Glatzen“, gegen sie ansetzt. Zusätzlich befeuert wird dieser Konflikt durch den Kampf um eine Frau. Daneben gibt es Vielzahl von kleinen und größeren Sub-Plots, die auf Dauer die Übersicht erschweren. Die jungen Filmhelden sind den anarchischen Verhältnissen und der äußerst brutal agierenden Konkurrenz letztlich nicht gewachsen, scheitern aufs Schmerzlichste, büßen für ihre unbeschwerte Naivität und ihren Mut.

Man ist zu Anfang überrascht, mit welch einem Feuer der über 80-jährige Kohlhaase und der mehr auch als ruhiger Vertreter seiner Zunft bekannte Dresen, der eher dem Kammerspiel zugeneigt ist, diese Geschichte auf die Leinwand bringen. Eine laute Handlung, Kraftstrotzen, plakative Zwischentitel, pochende Beats, abrupte Montagen der einzelnen Episoden. Dazu satirische Elemente bis hinein ins Karikierende, liebvoll zärtlich ausgestaltete Dialogszenen, brutale Gewalteinbrüche. Doch auf Dauer erlahmt diese gepflegte Wildheit, und der Zuschauer beginnt, die Übersicht zu verlieren und fragt sich abgelenkt, in wie weit sich Drehbuch und Regie tatsächlich in die Psyche der damaligen Jugendlichen hinein zu versetzen vermögen. Der Verdacht der Simulation kommt auf, und die anfängliche an Begeisterung heranreichende Sympathie für den Film erlahmt. (Helmut Schulzeck)