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15. Juli 2023 - 13:56

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Außen- und Innenleben

„Wendepunkte“ (Christoph Corves, D 2003-2013)



Der Dokumentarfilm „Wendepunkte“ kommt ganz nüchternd betrachtend daher. Dieser Stil liegt dem Kieler Filmemacher Christoph Corves. Anscheinend unaufgeregt, mit Gespür für die wichtigen Momente, begegnet er den Situationen, aus denen er seine Filme „strickt“. Man sollte sich von Corves’ Herangehensweise an sein Thema und an seine Protagonisten nicht täuschen lassen. Seine zurückhaltend sachliche Perspektive lässt den Personen Raum, viel Raum auch für seelische Explosionen, wie sie in „Wendepunkte“ eine der beiden Hauptpersonen, den Arbeiter Hans Werner, ereilen.

Faktischen Ausgangspunkt der sich anschließenden persönlichen Ereignisse im Film „Wendepunkte“ bildet die Schließung einer Fabrik des Nord-Zucker-Konzerns in Schleswig 2003 vor dem Hintergrund der sich dramatisch verändernden Marktsituation für Zucker in Europa. Die Schließung kann dabei auch als ein Symptom für die sich immer mehr zuspitzende Krise der Zuckerproduktion in Europa gesehen werden. Von ihr ist auch der Vorstandsvorsitzende von Nordzucker Ulrich Nöhle naturgemäß erheblich betroffen. „Wendepunkte“ verfolgt neben seinem Schicksal auch den Lebensweg des Arbeiters Hans Werner, der seinen Arbeitsplatz in Schleswig verliert. Dabei geht es dem Film erst in zweiter Linie um die äußeren Geschehnisse, die so weit wie nötig dennoch nicht außer Acht gelassen werden, sondern eher darum, wie die beiden Männer die Ereignisse bewältigen, wie sie die erheblichen Veränderungen in ihrem Leben kompensieren und welche neuen Wege sie beschreiten. Der Film verfolgt Nöhles und Werners Wege die nächsten zehn Jahre lang.

Mit der Schleswiger Betriebsschließung ist für beide Männer ihre Arbeit bei Nordzucker nicht beendet. Werner nimmt einen neuen Arbeitsplatz im Zuckerwerk in Güstrow an, führt mit seiner Frau eine Wochenendbeziehung, weil diese ihre in Berufsausbildung befindliche Tochter in Schleswig nicht allein lassen möchte. Was sich nun in Werner abspielt, monologisiert er im Film in eindrucksvoller Weise. Kamera und Mikro werden jetzt unbewusst von Werner beinah zu einer psychotherapeutischen Einheit gemacht, der der Frustrierte die Analysen seiner Lebenssituation anvertraut bzw. beichtet, die er in mecklenburgischen Einsamkeit angestellt hat.

Vor ihm sein geliebter „Pott Kaffee“ macht Werner seinen Enttäuschungen Luft, die bisweilen in verbitterte Depressionen zu münden drohen. Sich von der Ehefrau im Stich gelassen fühlend spricht er von seinen Kindern, denen die Frau seiner Sichtweise nach den Vorrang zu geben scheint, als ob es nicht die eigenen wären, und durchdenkt eine mögliche Trennung. Er kämpft sich im Laufe des Films zur seelischen Unabhängigkeit durch und kommt schließlich sogar zum scheinbaren Befund, dass ihn seine Frau eher stört, er oft eher in Ruhe gelassen werden will. Es offenbart sich eine fast grenzenlose Desillusionierung. Das ist hart, auch für den Zuschauer. Zwischen Arbeitsplatz, an dem ihm Computer und Maschinen jegliche Tätigkeit und Initiative aus den Händen nehmen, und feierabendlicher Plattenbautristesse brütet Werner vor sich hin. Und der Schweiß, den er sich mit beiden Ärmeln seiner Arbeitskleidung aus dem nachdenklichen Gesicht wischt, scheint nicht nur der Hitze im Betrieb sondern auch dem inneren Köcheln seiner Seele geschuldet. Als Ausweg zeitigt sich nur sein Traum von der eigenen Yacht ab, auf der er seinen herbeigesehnten Ruhestand wie ein Vagabund auf der Ostsee in Freiheit verbringen möchte, wie er sie versteht. Notfalls auch ohne Ehefrau, die gerne zu „ihren Kindern“ ziehen könne, wenn sie wolle.


Hans Werner (Foto: Christoph Corves)
Eigenartig, so sehr sich der Manager Ulrich Nöhle auch vom Arbeiter Hans Werner unterscheidet. Am Ende verwirklichen sie sich doch beide einen ähnlichen Traum, mit einem eigenen kleinen Schiff, die Küste entlang zu juckeln. Werner geht mit seiner Frau auf die Ostsee, Nöhle will mit einer wesentlich jüngeren Lebensgefährtin die Nordsee- und dann französische Atlantikküste hinunterstreifen. Ansonsten unterscheidet sich Nöhle doch ganz erheblich von Werner. Intellektgesteuert und eher introvertiert sich präsentierend gibt er viel weniger von sich Preis. Als Mensch der Tat ist von ihm nicht unbedingt auch nur eine unfreiwillige Seelenschau zu erwarten. Doch Dokumentarist Corves bleibt ihm geduldig auf den Fersen und erlebt so in Ausschnitten eine Karriere mit, an deren Ende bei Nordzucker 2007 nicht unbedingt eine eingestandene Niederlage steht. Nöhle tritt als Vorstandvorsitzender zurück, weil andere Entscheider im Konzern seinem tatenreichen Expensionsdrang, mit dem er der Branchenkrise zu enteilen hoffte, nicht folgen wollten. Ihm fehlt es an Rückhalt für seine Strategie. Doch man hat selbst in diesem Moment des verhaltenen Eingeständnisses, nicht den Eindruck, als ob diese Zäsur den Macher umhauen würde. Zu robust und positiv scheint sein Naturell. Dabei scheint ihm, dem Manager, als Macher von Zukunftsperspektiven eher das große Ganze, der Konzern, am Herzen zu liegen als die Menschen, die sich mit ihren Existenzen unter anderem hinter den Zahlen seiner Statistiken verbergen, die er besorgt vor Aktionärsversammlung oder Angela Merkel referiert.


Ulrich Nöhle (Foto: Christoph Corves)
Doch anders als Werner hat Nöhle noch einen Ausgleich zum Arbeitsleben, findet neben Motivation und Spaß am kreativen Begegnen von Herausforderungen in seiner Führungsposition noch Befriedigung im Ziegelsteineklopfen im Rahmen seines Hobbys alte Backsteinbauten zu restaurieren. Müßig zu erwähnen, dass man sich so etwas erst einmal in jeder Hinsicht leisten können muss. Erstaunlich bleibt es allemal. Und hier zeigt sich dann doch in seiner geduldigen Beharrlichkeit ein anderer Nöhle, der seiner geduldigen Tätigkeit einer anderen Sinn zu geben mag als ständiges Streben nach Veränderung und Wachstum zum Wohle der Bilanzen.

Insgesamt ist Christoph Corves ein erstaunliches Doppelporträt gelungen. Was anfangs trotz Fabrikschließung und Betroffenheit der Werksangehörigen so schlicht alltagsmäßig daher kommen zu scheint, entwickelt sich, vielleicht erst auf den zweiten Blick, zu einer beeindruckenden, nachdenklich stimmenden Langzeitbeobachtung. (Helmut Schulzeck)

„Wendepunkte“, Deutschland 2003- 2013, 88 Min., Produktion, Buch, Kamera, Schnitt und Regie: Christoph Corves, Ton: Markus Brüggemann, Musik: Titus Vollmer. Filmförderung: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (Filmwerkstatt Kiel)