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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

54. Nordische Filmtage Lübeck 2012

Ausbeutung der Dritten Welt für unseren Konsum

„Apple Stories“ (Rasmus Gerlach, D 2012)


Im Programmtext der Nordischen Filmtage Lübeck zum Dokumentarfilm „Apple Stories“ von Rasmus Gerlach findet sich der Begriff VJ-Doku. „VJ“ lehnt sich dabei an „DJ“ von Discjockey an und steht für Visual Jockey, meint eigentlich einen Videoperformance-Künstler, der locker und souverän mit Videoversatzstücken hantiert ähnlich wie ein DJ in einer Disco. Es steht zu vermuten, dass der Begriff VJ-Doku im Programmheft hier von Gerlach selbst stammt, obwohl sich besagte Bezeichnung im Alltag unserer zerstreuten Medienwelt schon etabliert hat. Und so unpassend scheint das Etikett für Dramaturgie und Vorgehensweise von „Apple Stories“ nicht gewählt. Locker, eher assoziativ als ständig streng logisch und folgerichtig linear, verknüpft der Hamburger seine dokumentarischen Entdeckungen aus Europa, Asien und Afrika. Es geht um Herstellungskette, Vertrieb und Reparatur von modernen Handys, wobei das besonders exponierte iPhone und sein Hersteller Apple im Zentrum der Betrachtungen stehen, aber dennoch nur Stellvertreter aus der bunten Smartphone-Welt sind. Und wenn der Film ab und an etwas vom eigentlichen Thema abschweift, etwa zur Werft von Bloom&Voss oder zu Ringo Starr auf Promotiontour in Hamburg, so bleibt er doch bei denen, die hinter all dem Mobilfunk- und Elektronikgedöns stehen: den Menschen, die für, von und mit den Smartphones leben, sei es im dunklen Zinnabbauschacht in Ruanda unter haarsträubenden Arbeitsbedingungen, sei es in den Reinluftfertigungsräumen eines Produktpiraten in tiefster chinesischer Provinz oder auf dem Tahir-Platz im nachrevolutionären Kairo.

Ausgangsbasis und fast heimatlich zu nennende Zwischenstation für die Exkursionen Gerlachs nach Ruanda, Shenzen, Hongkong, Kairo und zum Apple Store an den hanseatischen Jungfernstieg ist eine fest in türkischer Hand sich befindende Reparaturwerkstatt der „Handy-Doktoren“ auf St. Pauli in Hamburg. Dieser Ort im Handy-Laden von Mehmet Cöluglu, ein Platz für die „Generation Praktikum“, wie der Film salopp die jungen Handyreparateure, bisweilen fast noch Kinder, bezeichnet, bietet immer wieder Raum und Ruhe für kleine Fachsimpeleien und bisweilen ironisch gefärbte Erzählungen aus der Apple-Produktion und -Wartung.

Kein schärferer Kontrast ist denkbar als der zwischen iPhone-Hype an der Alster, wo Apple-Fans sich vorm neuen Store beim Schlangestehen die Nacht um die Ohren schlagen, nur um ein Apple-T-Shirt von der Eröffnung zu ergattern, und der staubigen, sauerstoffarmen Zinngrube in Ruanda, in der spärlich bekleidete Bergwerksarbeiter, meist ohne Arbeitschuhe und Sicherheitshelme, für 40 Euro im Monat in einem dürftig beleuchteten Schacht schuften, um einen der Rohstoffe für Mobilphone zu Tage fördern. Die Zeit unter deutscher Kolonialherrschaft, an die historische Aufnahmen von sklavenähnlich anmutenden Arbeitern erinnern („Diese Kolonie hat Zinn zu liefern“, O-Ton des Filmausschnitts), scheint gar nicht so weit entfernt zu sein, auch wenn die Afrikaner heute ständig schüchtern lächeln und der amerikanische Zinn-Händler Bill Quam ein humanes Interesse an der Minderung von Arbeitsunfällen an den Tag zu legen scheint, die hier zum Alltag gehören. Ebenso bedenklich stimmt die Situation bei den chinesischen Fertigungsfirmen von Apple: Foxconn und Wintech. Da mag Steve Jobs in einem TV-Interview kurz vor seinem Tod die Selbstmorde der chinesischen Arbeiter noch so relativieren und herunterspielen, ja sogar die Verhältnisse in Shenzen beschönigen. Der Apple-Mythos scheint mehr als beschädigt. Wenn man den Film gesehen hat, drängt sich die Frage, vielleicht nicht zum ersten Mal, auf, warum der Ruf von Apple immer noch so relativ gut ist. Liegt es an unserer Gleichgültigkeit und Ignoranz? Oder rechtfertigt die gute Qualität eines Produkts alle Ausbeutungspraktiken in Produktion und Vertrieb desselben?


Moderne Sklaven für unseren Wohlstand. Still aus „Apple Stories“ (Foto: NFL)
Trotz allen Skandalösen, was er zeigt, bleibt Rasmus Gerlach im erzählerischen Ton seines Dokumentarfilms nach außen hin gelassen. Bisweilen wie ein routinierter Weltenbummler kommentiert er die Vorgänge und die Situationen auf seiner „Abenteuerreise“, fügt seine Apple-Episoden zu einem keine Vollständigkeit beanspruchenden Kaleidoskop aneinander, springt zwischen den Orten des Geschehens hin und her und kommentiert lakonisch die drastischen Bedingungen einer verqueren Produktionsnormalität der begehrten Smartphones. Die in Bild und Ton geschilderten Geschichten werden für die Interessierten nicht unbedingt neu sein, Ausbeutung der Dritten Welt zum Wohle unseres wohlfeilen Konsum, und dennoch gewährt der Film gerade in Zusammenschau und Kontrastierung von „erster“ und „dritter“ Welt einen eindringlichen Blick der fatalen Bedingtheit von Technologie-Hype und modernem Kolonialismus im 21. Jahrhundert. (Helmut Schulzeck)

„Apple Stories, Deutschland 2012, 84 Min., Farbe, Buch, Regie: Rasmus Gerlach, Kamera: Rasmus Gerlach, Paul Kulms, Irina Linke, Thomas Bresinsky, Schnitt: Betina Vogelsang, Schnittberatung: Brigitte Kirsche; Moonlightmovies; Filmförderungen: Nordmedia, Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, Drehbuchförderung: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH)

„Apple Stories“ läuft im Filmforum der Nordischen Filmtage Lübeck am Donnerstag, den 1. November 2012, um 16:45 Uhr, im Cinestar 7.