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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

60. Nordische Filmtage Lübeck 2018

Kein anderer Verein

„HolsteinHerz“ (D 2018, 90 Min., Regie: Jess Hansen und Johanna Jannsen)


Das Genre Fußballfilm hat es nicht immer leicht beim großen Publikum, ob es nun als Spiel- oder als Sportfilm daher kommt. Der echte Fußballfan verfolgt lieber neunzig Minuten live das oft unvorhersehbare, nicht selten dramatische Geschehen auf dem Spielfeld, als dass er sich auf dokumentarische Surrogate einlässt. Und dem Kinogänger, der nicht unbedingt Fußballfan ist, muss schon mehr geboten werden als ein emotionaler Erinnerungsreigen aus einer Vereinsbiographie, der den sportlichen Werdegang einer Mannschaft zum Mittelpunkt aller Existenz macht. So sind denn die Leidenschaften, die sich des Kinos oder Fußballs bedienen, nicht auch unbedingt kompatibel. "Ins Kino gehen wir, um der schnöden Welt zu entfliehen, ins Stadion, um inmitten Gleichgesinnter größtmögliches Glück und tiefstes Elend zu erfahren. Wer schon jemals nach einem Tor spontan einen unbekannten, nach Bier riechenden Stehplatznachbarn umarmt hat oder nach einer bitteren Niederlage den Trost von Fremden erfuhr, der kennt das. Solche Gefühle kann kein Spielfilm auslösen." (Quelle)

Um alle Befürchtungen gleich vorab zu zerstreuen, "HolsteinHerz", ein dokumentarisches Biopic über den fast 120 Jahre umfassenden Lebenslauf von Holstein Kiel und seiner ersten Herrenfußballmannschaft, ist ein interessanter und humorvoller Wohlfühlfilm für ein großes Publikum. Die Fans werden den Film lieben, die Kieler sich an ihm erfreuen und alle anderen sich sehr gut unterhalten. Denn den Autoren und Regisseuren Jess Hansen und Johanna Jannsen ist es gelungen, ein filmisches Rundum-Sorglospaket zu schnüren, das die sportlichen Historie des Vereins mit ihren Aufs und Abs nachzeichnet, sich dabei aber nicht in Tabellendetails oder Sportschauberichten verliert, sondern dem sozialen Innen- und Außenleben eines Vereins eine Seele einhaucht, indem es ihm Gesichter und Geschichten gibt. Dabei vergessen die Macher nicht, das städtische Umfeld in ihre Betrachtungen mit einzubeziehen und vermitteln so gleichsam nebenbei lokalgeschichtliches Wissen. Da der Film zwangsläufig in seiner thematischen Konzentration nicht-fußballhaftes Privates größtenteils ausblendet, lässt er die sympathische (?) Hypothese zu, Spieler und treue Anhänger würden alltags wie feiertags eine quasi symbiotische Lebensgemeinschaft mit Holstein Kiel bilden.

Analog dazu gestaltet sich der geradezu pathetische Kommentar am Anfang des Films, in dem die besondere Verbundenheit zwischen dem Fußball und der Stadt Kiel gefeiert wird ("Holstein Kiel, zusammengewachsen vor mehr als 100 Jahren. Fußball am Meer. Das ist damals wie heute etwas ganz Besonderes."), was, betrachtet man die letzten Jahrzehnte, befremdlich wirken muss. Begriff sich die Fördestadt doch, besonders auf Grund der vielen sportlichen Erfolge von THW Kiel, vor allen Dingen als Hochburg des Handballs, in der Holstein Kiel, das sich längere Zeit in dritter und vierten Liga versteckte, bis auf die letzten Aufstiegsjahre im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein der Stadt eher ein Schattendasein führte.


Gäste-Block mit Holstein-Kiel-Fans nach dem ersten Relegationsspiel zur 1. Bundesliga 2018 im Wolfsburger Stadion
Diese einleitende Sequenz, deren Emphase nun noch in eine feierliche Selbstreferenz der Filmproduktion mündet ("Werftstraße 195, eine Filmschmiede direkt an der Förde. Hier wird sie lebendig: die Geschichte Holstein Kiels. Noch verpackt in achtzig Umzugskartons ...") ist der einzige kleine (rhetorische) "Ausrutscher" und bleibt vielleicht auch wegen seiner einleitenden Stellung im Film haften. Ansonsten bewältigen Jess Hansen und Johanna Jansen ihr umfangreiches Material souverän.

Ausgehend von dem sehr großen Privatarchiv des ein Leben lang treuen Holstein-Fans Fritz Hansen erschöpft sich der Film nicht nur in der Vereinsgeschichte, die natürlich mit ihrer dynamischen Fieberkurve zwischen Deutscher Meisterschaft, Oberliga und jüngsten Erfolgsstationen ausführlich gewürdigt wird. Vielmehr wird der neunzig-minütige Film seinem Titel gerecht, indem er mit persönlichen Erinnerungen und Anekdoten das emotionale Geflecht, sprich: die leidenschaftliche Identifikation von Spielern, Fans und Sponsoren mit dem Verein, sichtbar macht und würdigt.

Das sehr umfangreiche Erinnerungsmaterial in Wort und Bild, die vielen Interviews mit Spielern und Fans füllen die eine "Zeitreise", die der Film antritt: Von der Vereinsgründung 1900 im Zug zu einem Spiel in Lübeck, über den Gewinn der deutschen Meisterschaft 1912 und der deutschen Amateurmeisterschaft 1961 bis hin zum Pokalspiel gegen Borussia Dortmund 2012.

Neben ganzen Generationen von Spielern Holstein Kiels und den Mitgliedern des ältesten Fanclubs "Die Elite", die auf einem für die Interviews hergerichteten Ledersofa ihre Zeit mit und für den Verein wieder lebendig werden lassen, begleitet der Film in einer zweiten Zeitreise das Ehepaar Frauke und Mathias Herrmann durch Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit. Die Hermanns haben mit Laptop und DigiKamera die selbst gewählte Chronistenpflicht von Fritz Hansen übernommen und führen sie fort. Sie begleiten die Mannschaft bei allen Heim- und Auswärtsspielen, reisen sogar mit ins Trainingslager nach Spanien und füttern mit ihren Berichtern und Fotos ihren Blog Calcio Culinaria, der sich besonders den Begleitumständen, dem Geschehen außerhalb des Spielfelds und Randerscheinungen annimmt, so zum Beispiel das Stadion-Catering testet und bewertet.

Jess Hansen betreut Holstein Kiels Stadionfernsehen. Der Film profitiert von der daraus erwachsenden Vertrautheit mit den "Störchen", über die er schon vor 10 Jahren, als die Mannschaft mal wieder in der Oberliga Nord spielte, eine erste Reportage drehte. Johanna Jannsen konnte ihr kommunikatives Talent bei der Begleitung der Hermanns einsetzten. Unbedingt muss hier auch der kongenial eingesetzte Soundtrack hervorgehoben werden, dessen Lieder die Stimmung oft nicht nur unterstützten sondern geradezu befeuern. Stellvertretend sei hierfür die Gruppe "Die Denkedrans" genannt, deren Ohrwurm "Keine andere Stadt, keine andere Liebe, kein anderer Verein" großartig zur Fußball-Kanonade Holstein Kiels aus der letzten Saison montiert wurde.

Besonders Andreas Raddatz als Produzenten von Joker Pictures gebührt das Verdienst, die Zeichen der Zeit erkannt und das sportliche Coming Back von Holstein Kiel für einen Film über das bewegte Leben dieses Vereins genutzt zu haben. Wohl wissend um das Risiko dieses finanziellen Unterfangens (siehe oben). Besonders ihm sei aller Erfolg mit diesem wunderbaren Film gewünscht. (Helmut Schulzeck)

„HolsteinHerz“ (D 2018); Regie: Jess Hansen, Johanna Jannsen; Kamera: Kay Gries, Felix Ruge, Jens Hinrichsen, Axel Nicke, Ingo Blöcker, Philipp Metelmann, Carsten Bernot; Schnitt: Leon Barnstorf, Jörg Rode, Vanessa Woinowski; Mitarbeit: Frauke und Matthias Hermann u. v. m.; Produzent: Andreas Raddatz, Patrick Ach; Produktion: Joker Pictures, KSV Holstein Kiel von 1900 e.V.; Filmförderung: Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH