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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

Globalisiertes Ende einer Fabrik

„Die letzte Schicht” (Cristoph Corves, D 2009)


Schneeweißer Wasserdampf steigt in den blauen Himmel, ein trügerisch friedliches Bild. Eine kurze Explosion und ein Industrie-Schornstein sackt schnurgerade in sich zusammen, als hätte eine unsichtbare Hand ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. So dürften sich die Mitarbeiter der Zuckerfabrik Schleswig im Herbst 2003 gefühlt haben, als die Nachricht über die Schließung des Werkes die Belegschaft aus heiterem Himmel traf. Viele erfuhren von der Schließung des Werkes zuerst aus dem Radio oder dem Fernsehen. Auf einer außerordentlichen Versammlung war der Management-Beschluss bereits verkündet worden. Fassungslosigkeit macht sich unter der Belegschaft breit.

Trotzdem startet im September 2003 in der Fabrik die letzte Erntekampagne. Direktor Thilo Zellman, seit 34 Jahren in der Zuckerindustrie, findet moderate Worte, trotz eingestandener Wehmut vor der letzten Kampagne: „Man blickt auf die Jahre kurz zurück, aber ich muss auch sagen, für die Kampagne selber, die 70 Tage, die vor uns stehen, habe ich doch den entsprechenden Optimismus. Und den muss man an den Tag legen, sonst kann man nicht gewinnen.“ Doch zu gewinnen ist für die Belegschaft nur noch ein Abgang in Würde, das Schicksal der Zuckerfabrik Schleswig ist besiegelt.

Mit der Schließung des seit 1953 bestehenden und seit 1997 zur Braunschweiger Nordzucker AG gehörenden Werkes sollten laut Konzernleitung Überkapazitäten in der Produktion abgebaut werden. Eine Folge der 4%igen Senkung der „Zuckerquote“ durch die Europäischen Union. Für die 138 Mitarbeiter bedeutet dies den Verlust ihrer Arbeit, Umzug in ein anderes Werk, berufliche Neuorientierung oder Vorruhestand.

An dieser Stelle setzt der Dokumentarfilm „Die letzte Schicht“ von Christoph Corves ein. Er verfolgt die letzte industrielle Verarbeitung einer Zuckerrübenernte in Schleswig-Holstein und den anschließenden Abbruch des Werkes. Die Arbeiter, die oft ein halbes Berufsleben hinter dem „süßen Gold“ aus Schleswig-Holstein stehen, äußern Wehmut und Zukunftsängste, aber auch Enttäuschung und Ärger. Von der Schneidestation über das Kesselhaus bis zur Verpackung, von der Küche bis zur Werksleitung fügen sich alle in das Unausweichliche, resignieren vor den kaum nachvollziehbaren Forderungen eines globalen Marktes.

Lorenz Nielsen hat noch Glück: Er bedient die Rübenschneidestation, nach dem Ende der Kampagne kann er mit 62 in Rente gehen. Er findet den Mut für deutliche Worte vor der Kamera. Die Schließung sieht er kritisch, schließlich gab es früher sogar zwei Zuckerfabriken: „Und ich finde es nicht gut, dass die letzte Zuckerfabrik hier raus geht aus Schleswig-Holstein. Die ganze Region wird hier ausgeödet, ausgebeutet. Die ganzen Zulieferbetriebe und die Firmen, die hier gearbeitet haben und ihr Brot verdient haben, alles fällt weg. Das muss ich dem Konzern zur Last legen. Hier wird ohne Not eine Fabrik geschlossen. Wir haben nie rote Zahlen gehabt.“ Er bedauert die Kollegen, die sich jetzt einen neuen Job suchen müssen und nach Mecklenburg oder Niedersachsen ziehen müssen, obwohl die Anstellung im Werk Schleswig als besonders sicher galt. „Und das ist meine Heimat hier, oben in Schleswig, Kreis Schleswig-Flensburg, und wenn ich dann über die Feldmark wandere und dann die Rauchfahne seh’, das ist wie Heimat hier. Und alles das ist nicht mehr.“

Zwar haben alle unter 55-Jährigen ein Arbeitsplatzangebot bekommen, in andere Werke zu gehen. Doch nicht alle wollen auf dieses Angebot eingehen, meist, weil sie familiär an den Standort gebunden sind. Sie wechseln die Branche oder versuchen die berufliche Neuorientierung. Die älteren Mitarbeiter aber bekommen kein solches Angebot und fühlen sich um ihren Job betrogen, so Zuckerverlader Herbert Zimmermann: „Und wenn ich denn hör’, wenn die 55 sind, die kriegen gar keinen Arbeitsplatz mehr angeboten, sondern die müssen in die Arbeitslosigkeit geh’n. Müssen frühstmöglich in Rente geh’n, ob sie’s können oder nicht können. Es gibt ja auch welche, die sind älter und haben noch Kinder zu hause. Und wenn ich denn hör’, die sollen von 700 Euro leben, Miete zahlen. Dat wird nichts, also ...“

Bereits in seinem Dokumentarfilm „Süßhunger“ (D 2002) beobachtete Christoph Corves die Folgen der Globalisierung am Fallbeispiel des Zuckermarktes. Während er damals die Erzeuger im Focus hatte und die Situation der Zuckerrohrplantagen in Mexiko und der Dominikanischen Republik mit der der Rübenbauern in Schleswig-Holstein verglich, begibt er sich diesmal unter die Facharbeiter der Zuckerverarbeitung. Doch seine Beobachtungen sind nicht branchenspezifisch, sondern besitzen Allgemeingültigkeit. Ändert sich in unseren globalisierten Märkten die Nachfrage nach einem Produkt oder die Subvention desselben nur im einstelligen Prozentbereich, bedeutet dies für hunderte oder tausende Menschen den Verlust ihres Arbeitsplatzes ohne eine Garantie auf einen neuen. Corves stellt nicht nur diesen Zusammenhang her. Er zeigt auch, dass der Arbeitsplatz für die Menschen mehr bedeutet, als nur entfremdeter Unterhaltserwerb. Die meisten Menschen identifizieren sich mit ihrer Arbeit, dem Produkt, ihrem Standort und auch ihrer Firma. Doch die Undurchschaubarkeit globaler Marktveränderungen und die zunehmenden Werksschließungen führen immer mehr zu einer resignativen Grundstimmung, einem Gefühl der Ohnmacht.

Gerade weil Corves für „Die letzte Schicht“ eine sachliche Form und einen zurückhaltenden Duktus wählt, treten die fast zurückhaltend geäußerten Emotionen der Belegschaft umso stärker hervor. Der heimliche „Hauptdarsteller“ des Films ist Werksleiter Thilo Zillmann, der sich wie eine „Mutter der Kompanie“ um Mitarbeiter und Werk kümmert, bis hin zur Archivierung der Personalakten und dem Abriss der Fabrik. Stets um Korrektheit und Moderation bemüht, zeigt sich der ehemalige NVA-Offizier doch sehr bewegt über die Schließung des Werkes, in dem er seit Jahrzehnten arbeitete. Kurz nach Ende der Dreharbeiten verstarb Zillmann.

Auch deshalb sind die letzten Bilder des Films gut gewählt: Wie ein gieriger Saurier frisst sich der Greifer des Abrissbaggers durch die Fabrikhallen. Als der 70 Meter hohe Schornstein des Kesselhauses am 11. Oktober 2006 schließlich fällt, atmet er einen letzten rußigen Atemzug aus. (dakro)

„Die letzte Schicht“, D 2009, 56 min., DV auf Beta SP; Buch, Regie, Kamera: Christoph Corves; Ton: Markus Brüggemann, Christian Urban; Schnitt: Christoph Corves; Produktion: Christoph Corves, DokuFaktur; gefördert durch die Kulturelle Filmförderung Schleswig-Holstein.